"Das betrifft auch inländische Kinder, die noch nie eine Schere gehalten haben": Brandsteidl

Foto: derStandard.at/Oberndorfer

Im April wird feststehen, wie viele angehende Wiener VolksschülerInnen für "nicht schulreif" befunden werden. LehrerInnen hatten zuvor befürchtet, es würde zu "reinen Ausländerklassen" kommen, das Modell fördere Segregation (DER STANDARD berichtete). Stimmt nicht, entgegnet die Wiener Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl im derStandard.at-Interview: Es würden schließlich auch inländische Kinder mit "sozialen, kognitiven oder motorischen Defiziten" herausgenommen. Für Eltern, die ihre Kinder lieber in der Privatschule anmelden, hat sie Verständnis: "Sonst müsste ich ja für zehn Prozent der Eltern kein Verständnis haben." Die Fragen stellten Maria Sterkl und Elisabeth Oberndorfer.

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derStandard.at: Vor drei Jahren waren Sie noch der Meinung, die Selektion von Kindern mit schlechten Deutschkenntnissen sei "Unsinn". Nun haben Sie mit ihrem „1+1"-Modell genau das vor. Was macht den Unsinn von damals heute sinnvoll?

Brandsteidl: Das ist ein Irrtum. Wir selektieren nicht.

derStandard.at: Können Sie uns den Unterschied zur Selektion erklären?

Brandsteidl: Wir selektieren keine Ausländerkinder, verallgemeinernd gesagt. Kinder, die aus irgendeinem Grund - soziale, motorische, kognitive, sprachliche Defizite - die Voraussetzungen für die erste Klasse Volksschule nicht erfüllen, bekommen ein Jahr zusätzlich Förderung. Das betrifft auch inländische Kinder, die noch nie eine Schere gehalten haben, die soziale Schwierigkeiten haben, whatever.

derStandard.at: Genau das wird ja kritisiert: Dass man hier Kinder, die womöglich zwei Sprachen fließend sprechen, aber Deutsch nur mangelhaft beherrschen, mit verhaltensauffälligen oder motorisch schwachen Kindern gleichsetzt.

Brandsteidl: Nein, das wird nicht gemacht. Verhaltensauffälligkeit ist eine andere Sache.

derStandard.at: Was sind dann „soziale Schwierigkeiten"?

Brandsteidl: Zum Beispiel Kinder, die nicht gruppenfähig sind.

derStandard.at: Nun heißt es, Kinder lernen Sprachen am besten im Spiel mit anderen Kindern. Wie sollen SchülerInnen von „nicht gruppenfähigen" Kindern gut Deutsch lernen?

Brandsteidl: Indem sie Deutsch sprechen, ganz einfach. Das hat damit absolut nichts zu tun.

derStandard.at: Was war so unbefriedigend am bisherigen Modell?

Brandsteidl: Dass unsere PISA-Ergebnisse offensichtlich nicht so sind, dass wir die Welle machen. Und die Ergebnisse sagen uns dringend: Ein Vorschuljahr wäre gut. Aber das Bundesgesetz sagt ja: Vorschulunterricht ja oder nein - das hat mit der Schulreife zu tun. Wir nehmen den Gesetzestext ernst und schöpfen das aus. Aber das wichtigste Ziel wäre ein verpflichtendes Vorschuljahr für alle Kinder.

derStandard.at: Ihr Modell betrifft aber nur Kinder mit sprachlichen oder motorischen Defiziten. Kann es sein, dass diese Kinder das Gefühl haben, zu Sündenböcken für die schlechten PISA-Ergebnisse erklärt zu werden?

Brandsteidl: Nein. Das hat nichts mit Sündenböcken zu tun, wenn man ein Jahr mehr Förderung bekommt.

derStandard.at: KritikerInnen meinen, Ihr Modell fördere Segregation, nicht Integration.

Brandsteidl: Sie wollen unbedingt von mir hören, dass wir segregieren. Und ich sage, wir tun es nicht.

derStandard.at: Es gibt aber LehrerInnen, die sich an den Bürgermeister gewendet haben, weil sie genau das befürchten.

Brandsteidl: Die habe ich eingeladen und ich habe ihnen erklärt, dass es nicht so ist.

derStandard.at: Haben sie sich überzeugen lassen?

Brandsteidl: Das müssen Sie die Lehrer fragen. Es wird immer Gegner der Vorschulklassen geben.

derStandard.at: Glauben Sie, dass die GegnerInnen im Lehrpersonal in der Mehrheit oder in der Minderheit sind?

Brandsteidl: In der Minderheit. Das glaube ich nicht nur, sondern das weiß ich.

derStandard.at: Haben Sie Verständnis für Eltern, die ihre Kinder in Privatschulen anmelden, und dies mit dem hohen Anteil von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache begründen?

Brandsteidl: Manche wählen Privatschulen und manche nicht. Es gibt ein Bündel an Gründen, weshalb man in die Privatschule geht. Aber das hat nichts damit zu tun, dass sie jetzt justament in die Privatschule gehen, weil in den öffentlichen Schulen zu viele Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache sind. Natürlich habe ich Verständnis. Sonst müsste ich ja für zehn Prozent der Eltern von Schulkindern kein Verständnis haben.

derStandard.at: Es gibt aber auch KritikerInnen, die meinen, das öffentliche Schulsystem sei noch zu sehr auf eine homogene, deutschsprachige Bevölkerung ausgerichtet und verfehle damit seine Wirkung.

Brandsteidl: Nein, die Kritik gibt es nicht. Das ist Unsinn.

derStandard.at: Manche türkischstämmige Familien wünschen sich Türkischunterricht an öffentlichen Schulen. Zum Teil ist dieser Mangel ein Grund für sie, lieber islamische Privatschulen zu besuchen. Ist es Ihnen ein Anliegen, sie für öffentliche Schulen zu begeistern?

Brandsteidl: Nein, gar nicht. So wie Nicht-Türkischsprachige eine Privatschule besuchen, sollen auch Türkischsprachige das tun können. (derStandard.at, 22.3.2009)