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Nach dem Nilbarschboom im Viktoriasee wurde der Jäger zum Gejagten. Das könnte das gesamte System stabilisieren.

Foto: APA/EPA/STEPHEN MORRISON

Es schien so einfach zu sein: Wenn in einem See hauptsächlich grätenreiche Kleinfische vorkommen, und dies gleich in unglaublichen Massen, dann braucht es einen großwüchsigen Raubfisch, der diese Zwergenschwärme effizient in marktfähiges Fischfleisch umwandelt. Und so eine Spezies lebte praktischerweise auch noch in der näheren Umgebung. Worauf wartete man also noch?

Was folgte, war einer der berühmtesten ökologischen Katastrophen des späten 20. Jahrhunderts. Das Aussetzen von Nilbarschen (Lates niloticus) im ostafrikanischen Viktoriasee führte, mit einer gewissen Zeitverzögerung, zu deren explosionsartiger Vermehrung und einer verhängnisvollen Kettenreaktion.

Schwimmende Staubsauger

Die Räuber machten ihre Arbeit gut, zu gut. Zuvor war der See Heimat von schätzungsweise 500 bis 600 endemischen (nur dort vorkommenden) Buntbarscharten der Gattung Haplochromis gewesen. Ihre unglaubliche Vielfalt gilt unter Biologen nach wie vor als Musterbeispiel evolutionärer Radiation, also Auffächerung der Arten. Die Nilbarsche jedoch setzten dem bunten Treiben in den 1980er-Jahren ein jähes Ende. Wie schwimmende Staubsauger vertilgten die bis zu zwei Meter langen Raubfische alles, was ihnen vor das Maul schwamm.

Das Ökosystem Viktoriasee, Afrikas größtes Binnengewässer, durchlief einen radikalen Wandel: Vor der Invasion von L. niloticus machten kleine, einheimische Buntbarsche 83 Prozent der Fangerträge der Fischer aus, danach nur noch weniger als ein Prozent. Wie viele Haplochromis-Arten komplett ausgerottet wurden, weiß niemand genau. Einige Experten gehen davon aus, dass etwa die Hälfte für immer verschwunden ist.

Gleichwohl: Die Fischerei erlebte dank der Nilbarsch-Schwemme eine bis dahin unerreichte Blüte. Alleine im kenianischen Teil des Viktoriasees wuchs der Jahresertrag von 19.000 Tonnen im Jahr 1976 auf rund 220.000 Tonnen 1992. Das Wachstum kam allerdings nur einem eher kleinen Teil der Bevölkerung zugute, meistens den Kapitalkräftigen. Nilbarschfilets wurden zum Exportschlager. Und sie sind es bis heute.

Per Luftfracht findet die verderbliche Ware ihren Weg in die Kühltheken europäischer und US-amerikanischer Lebensmittelläden. Über die vom Nilbarschboom verursachten ökologischen, sozialen und ökonomischen Verwerfungen drehte der österreichische Filmemacher Hubert Sauper einen preisgekrönten Dokumentarfilm mit dem Titel "Darwin's Nightmare". Er kam 2005 in die Kinos.

Inzwischen jedoch tritt langsam, aber sicher eine Trendwende ein. Der Nilbarsch ist vom Jäger zum Gejagten geworden. Zwar haben die Riesenräuber im Viktoriasee praktisch keine natürlichen Feinde, doch die Population ächzt unter dem enormen Fischereidruck. Die Nilbarschfänge sind seit Jahren rückläufig, und der Anteil an großen, geschlechtsreifen Tieren sinkt (vgl. Aquatic Ecosystem Health & Management, Bd. 11, S. 42).

Mit anderen Worten: L. niloticus ist überfischt. Dem ökologischen Gefüge des Sees tut dies offenbar gut. Fachleute beobachten unter anderem eine teilweise Erholung der Haplochromis-Bestände. "Ihre Anzahl steigt stetig, das gilt aber nicht für alle Arten," erklärt der niederländische Buntbarschexperte Frans Witte von der Universität Leiden gegenüber dem Standard. Die wachsende Eutrophierung des Viktoriasees sei freilich noch ein wichtiges, ungelöstes Problem. Sie behindere wahrscheinlich den Rückkehr vieler Buntbarscharten.

Auch andere Fische scheinen vom Rückgang der Nilbarsche zu profitieren. Die Population der ebenfalls importierten Niltilapias (Oreochromis niloticus) wächst deutlich, und sie besiedeln zunehmend tiefere Wasserschichten, die früher das Revier der Räuber waren.

Vor allem für ärmere Fischer mit kleineren Booten kann O. niloticus eine willkommene Alternative sein. Der kenianische Fischereiexperte James Njiru sagt sogar eine Verbesserung der Proteinversorgung der regionalen Bevölkerung voraus - als Folge der Zunahme der Tilapias und der Erholung einheimischer Fischarten, die nicht für den Export taugen.

Seltsamer Evolutionsprozess

Der Biologe Ulf Dieckmann vom Iiasa, dem Internationalen Institut für angewandte Systemanalysen in Laxenburg bei Wien, weist noch auf einen anderen interessanten Aspekt hin. Beim Nilbarsch im Viktoriasee, so der Experte, zeigen sich erste Anzeichen eines seltsamen Evolutionsprozesses, den Forscher bereits mehrfach bei überfischten Meeresfischen beobachteten: die verfrühte Geschlechtsreife infolge einer "unnatürlicher Auslese". Eine für die Population potenziell riskante Entwicklung, denn sie mache die Fortpflanzung an sich ineffizienter. "Größere Weibchen produzieren bessere Eier", sagt Dieckmann. Und deshalb sei deren Nachwuchs überlebensfähiger.

Frans Witte wünscht nicht, dass die Großfischerei im Viktoriasee vollständig zusammenbricht. Sie sei wirtschaftlich zu wichtig für die Anrainerstaaten. "Wir hoffen auf ein stabiles System mit guten Nilbarschfängen und hoher Artenvielfalt", so der Forscher. "Naturschutz und Fischerei könnten gut Hand in Hand gehen." Natürlich vorausgesetzt, es gibt ein solides, konsequentes Management. (Kurt de Swaaf/STANDARD,Printausgabe, 18.3.2009)