Helen Levitt, geboren in Brooklyn, gelang eine sensible Charakterisierung der Menschen auf der Straße ("New York", 1978).

F.: Miller Gallery, N. Y.

Paris, 40 Jahre zuvor: Lisette Models "Blind Man".

Foto: Galerie Faber

Eine Ausstellung von Lisette Model in der Galerie Faber ergänzt das Thema. 

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Wien - In Midtown New York, 57th Street, Ecke 5th Avenue: Da hätte er in den Siebzigerjahren während der Mittagspause die meisten seiner Fotos gemacht, erzählt Charles H. Traub. "Wenn du dort nur lange genug gestanden bist, ist jeder von Bedeutung vorbeigekommen."

Traub, der heute an der School of Visual Arts in New York unterrichtet, interessierte sich aber für die anonymen, mitunter schrillen Vögel, die ihm dort begegneten. Sie wurden Teil seiner 400 Stück umfassenden, soziale und ethnische Unterschiede berücksichtigenden Typologie der New Yorker - eingefangen im Mittelformat mit einer Rolleiflex 66. Einmal sei es sogar passiert, dass Jackie Onassis und wenig später John Lennon und Yoko Ono vorbeispazierten und ihm anboten, kurz für ein Foto zu posieren. Er habe dankend abgelehnt, berichtet der 63-jährige Traub nicht ohne Stolz.

Farbe fügte Bedeutung hinzu

Unter den achtzehn Positionen der amerikanischen Street Photography, die Kurator Gilles Mora für Big City versammelt, gehört Traub zu den jüngeren; zu jenen, die in den 1970ern die Farbfotografie für sich entdeckten und so die sozialen Kontraste im Big Apple noch viel schärfer zeichneten. "Farbe war wie ein weiteres Details im Bild, sie fügte Bedeutung hinzu", unterstreicht Traub die Wichtigkeit der technischen Entwicklung für sein Medium. Denn die Street Photographer, die "alles knipsten, was mit dem Leben auf der Straße zu tun hat", hatten nicht nur Soziales und Dokumentarisches im Blick, unterstreicht Mora. Auch die Entwicklung des fotografischen Blicks interessierte sie.

Was ist das Geheimnis, damit sich Menschen für ein spontanes Porträt öffnen? Nicht viel. Nur Wertschätzung und Bewunderung für sein Gegenüber, sagt Traub. Er habe stets nur gefragt: "Darf ich ein Foto von ihnen machen?", denn die meisten Menschen wollen sowieso fotografiert werden.

Das mag auch heute noch so sein. Dennoch, behauptet zumindest Mora, sei die Street Photography unwiederbringlich tot - ein Opfer des "Rechts auf das eigene Bild", das die Menschen ab Ende der 1990er für sich reklamierten. Er lässt die chronologisch und nach Protagonisten geordnete Ausstellung, die New York als "Herz der amerikanischen Fotografie" einfängt, bereits in den 1980er-Jahren enden. Etwa mit Tod Papageorges Central-Park-Aufnahmen; einem Ort nächtlicher Gefahren, dem er untertags humorvolle und genaue Beobachtungen abgewann.

Einem engen Freund Papageorges, dem 1984 früh verstorbenen Garry Winogrand, widmet Mora im Wien Museum sogar einen eigenen Saal, eine musikuntermalte Diashow: Der manische Vielfotograf sei "die Essenz der Street Photography". Trotz prominenter Vorreiter wie Cartier-Bresson oder Kertész gilt Winogrand vielen als Urheber des Genres.

Ablehnung jeden Glamours

Im Vordergrund steht aber nicht informative Didaktik, sondern die außergewöhnliche Wirkkraft der Fotos. Neben Klassikern wie Walker Evans, Weegee, William Klein, Diane Arbus oder Helen Levitt werden aber auch Künstler präsentiert, die vielen Betrachtern weniger bekannt sein düften: Bruce Davidson oder Joel Meyerowitz etwa.

Auf eine weitere wichtige, frühe Protagonistin der Street Photography, Lisette Model, trifft man nicht im Wien Museum, doch umso umfassender in der Fotogalerie Faber. Jedes ihrer Bilder, seien es die ironischen Betrachtungen der Urlauber an der Côte d'Azur 1934 oder der New Yorker Fashion Shows 1940, atmet ihre Abneigung gegenüber jeglichem Glamour und der bürgerlichen Welt - einer Welt, der die 1901 in Wien geborene Model, ursprünglich entstammte. (Anne Katrin Feßler/DER STANDARD, Printausgabe, 18. 3. 2009)