Venedig, ein Foto: Wir beide sitzen auf einer Bank an einer Vaporetto-Station.Du lachst freundlich in die Kamera hinein, wie man sagt. Ich selber sitze entspannt und zurückgelehnt da.

Foto: Christiana Pock-Rosei

"Was mir entgegentrat, war ein würdevoller kleiner Häuptling, ein Bote, der im fest verschlossenen Mund eine Botschaft überbrachte ..."

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"Ich beschreibe Ihnen meinen Sohn: In tiefem Ernst kam er zur Welt. Als er aus der Spalte glitt, zwischen den gespannten Lippen hervor, glich sein hoher, erhabener Schädel am Ende des Körperpfahls, der da herausfuhr, einem Indianer-Fetisch, einer kleinen Idolfigur aus Ozeanien: Der Mund war breit und wie mit Messerschnitten aus dem Holz herausgekerbt, die Augen geschlossen, rund heraustretend, mandelförmig - die Augen eines Adlers an einem Totempfahl. Die Farbe des Körpers mit den verschränkten Armen und Beinen - krötenhaft abgeknickt - erschien lehmig oder mergelgrau im Licht der Kreißsaallampe, und das skulpturenhafte Aussehen der Formen wurde noch betont durch das flach an den Schädel gewellte dunkle Haar: Was mir entgegentrat, war ein würdevoller kleiner Häuptling, ein Bote, der im fest verschlossenen Mund eine Botschaft überbrachte, ein Fremdling, der aus einem Land herkam, von dem ich nichts wusste und an das ich keine Erinnerung hatte.

Ich beschreibe meinen kleinen Sohn: Da liegt er - im Bettchen; oder auf einer Bank, mit Wolldecken bedeckt oder in sie eingehüllt. Er zeigt mir sein Profil, der Kopf liegt zur Seite gewandt auf der Unterlage, rechts und links davon die zu Fäusten geballten Händchen.

Über die Stirn läuft die Linie anmutig das Näschen hinauf, fällt, steigt wieder und schürzt sich zur Oberlippe, unterhalb deren Unterlippe und Kinn zurückspringen, das kleine Kinn schön gewölbt, der ganze Kopf, vom Hinterkopf bis zur Spitze des Kinns ein vollkommenes, ein in sich ruhendes, fehlerloses Ei.

Der seidig-dunkle Besatz mit Härchen am Scheitel, das durchsichtige, an im Frühjahr auftauendes Eis erinnernde Gespitz, der Wimpernkranz der Augen; das kühle Blau der Iris, buchtenartig. Meine Beschreibungskünste, an so vielen Werken geübt, hier versagen sie.

Mein Sohn? - Da liegt er vor mir im Kinderwagen. Ich will ihn beschreiben, ich beschreibe ihn: Er hat feste, weißliche Saugbacken, eine schöne, kleine, weiße Stirn, eine aufgeworfene Nase mit zwei allerliebsten Löchern, einen geschürzten, rosigen, stets ein wenig offen stehenden Mund, ein rosa Schnäuzchen.

Manchmal hat er einen Kratzer auf der Wange, den er sich mit dem Fingernagel selbst zugefügt hat. Ein paar blaue Adern scheinen an der linken Stirnseite durch. Seine Haare gehen, noch dunkel, allmählich zum Helleren. Er ist rundherum heil. Und da lacht er; da lacht er! Mein Sohn lacht!"

Was an diesen frühen Notizen auffällt, ist der Umstand, dass ich vom Phänomenalen, ja Phantastischen des Lebens, des Lebendigen an sich, wie es mir in deiner Gestalt unausweichlich gegenübertrat, überrascht und wie gebannt war: Als hätte ich dergleichen noch nie gesehen.

Naturgemäß habe ich versucht, mich dessen, was ich sah, zu vergewissern. Ich habe es gelernt, das meiste, was mir begegnet, auf diese Art mir anzueignen, es mir gefügig zu machen, es zu zähmen. Bei dir hat das nicht funktioniert. Von allem Anfang an hattest du eine Wahrheit, die viel größer war als meine eigene, in sie also nicht hineingepasst hat.

Sankt Petersburg. An einem sonnigen Nachmittag waren wir zum Smolny-Kloster hinausgefahren. Von früheren Besuchen her wusste ich, dass hinter der Kirche ein kleiner Park liegt, meist menschenleer. Ich saß mit dir dort eine Weile in seidigem, grünem Gras, unter einer großen Linde, glaube ich. Eine Zeitlang bist du ganz ruhig und zufrieden zwischen meinen Beinen gesessen, vielleicht weil dir heiß war oder du müde warst. Dann bist du auf dem Weg hergelaufen gekommen, hast mit deinem Ball gespielt. Du hast den Ball vor dir her gerollt. Ihn manchmal auch zu mir herübergerollt. Ich selbst war längst in allerhand Gedanken und Träumereien versunken. Ich war nicht mehr da. Wenn ich dir auch keine Aufmerksamkeit schenkte, war es mir doch, als wäre ich bei dir. Wir waren einander nah. Wir waren ganz beisammen.

Ich winke dir!

Venedig, ein Foto: Wir beide sitzen auf einer Bank an einer Vaporetto-Station; am Canal Grande wohl, wie ich aus der Weite und dem festlichen Licht, das auf dem Bild herrscht, schließen zu können meine.

Du lachst freundlich in die Kamera hinein, wie man sagt. Ich selbst sitze entspannt und zurückgelehnt da. Mein Blick allerdings ist nicht auf den Fotografen oder auf irgendetwas sonst gerichtet. Er verrät auch keinen Bezug zu dir und zu der Tatsache, dass wir nebeneinandersitzen. Mein Blick ist nach innen gewandt. Es muss ein fantastisches Reich sein, in das ich hineinschaue. Oder ist es bloß eine Leere, deren einziger Reiz darin besteht, dass sie mir ganz allein gehört? Das angesprochene Foto, kommt mir vor - und darin liegt wohl seine Bedeutung - erzählt die Geschichte eines schönen, eines gelungenen Tages.

Fidschi. Auf dem Weg zum Flugfeld, über die Straße hinüber, da hast nur du geweint, und ich habe dir Mut zugesprochen. Auf dem Weg zurück zum Haus habe ich selbst zu weinen begonnen und wusste mir nicht zu helfen.

Es war, in dem Augenblick, kam mir vor, ein Vorspiel dessen, wie alles wohl einmal kommen würde.
Mit einem großen Tuch winke ich aus dem Garten zu dem kleinen Flugzeug hinauf, mit dem du fortfliegst. Ich weiß ja, ich habe es viele Tage beobachtet, dass das Flugzeug erst in die Gegenrichtung, vom Haus weg, fliegt, über den Urwald erst und die weitgeschwungene Bucht dort unten, ehe es in weiter Schleife zurückkehrt und, Haus und Wald überquerend, endgültig fortfliegt.

Ich weiß auch, dass man vom Flugzeug aus, ich bin oft genug damit geflogen, dass man von dort oben einen Menschen, eine menschliche Gestalt nicht ausnehmen kann: Trotzdem winke ich, ich winke dir - und wie ich winke!

Ich kann mir nur schwer ein Bild von dir machen. Von dir, ja. Ich war fast immer mit dir beisammen. Beinah dein ganzes Leben. - Nur selten habe ich dich angeschaut, merke ich jetzt. Ich meine, ich konnte dich nicht anschauen, wie man Fremdes anschaut. Ich habe hingeschaut, hingeschaut ...

Deine größte Liebe, eine, die ich von außen beobachten konnte, galt einem Hund. Es war ein großer schwarzer Hund. Furchterregend und doch wieder bärenhaft gutmütig sah er aus. In dem Stadtviertel, in dem wir damals lebten, galt er als gefährlich. Ich sehe dich noch, wie du mit dem Hund, der viel größer war als du, fröhlich spielst, wie du versuchst, ihm, der sich dagegen wehrt, ein Stöckchen oder ein Tuch, das er im Maul hat, zu entreißen. Er hat ein schrecklich großes Maul mit fürchterlichen Zähnen. In deinem Gesicht sehe ich aber nur Übermut und eine große Freude. Du vertraust dem Hund: Du weißt, dass er dich mag und also nicht beißen wird. Du weißt, dass der Hund sich dir unterordnen wird und du also der Stärkere bist.

Noch Jahre später brichst du in Tränen aus, wenn dir der Hund in den Sinn kommt. Er kommt dir immer dann in den Sinn, wenn du, aus irgendeinem, meist ganz anderen Grund, traurig bist. "Weshalb bist du traurig?" , frage ich dich. "Es ist wegen des Hundes", sagst du. "Aber weshalb bist du traurig?" "Weil ich ihn nicht wiedersehen werde!"

Die Liebe, ich meine, das Gefühl, das man im Alltag - gestern, heute und morgen - für das Geliebte empfunden hat, empfindet und immer empfinden wird, man spürt sie nicht. Sie ist da. Sie erhellt und gestaltet die Welt. - Die Welt ist eine andere, wenn man liebt.

An unserem letzten Abend gehen wir am Rand einer breiten Schotterstraße entlang, und du fragst mich, ob dein Freund noch lebt. "Aber natürlich lebt er noch. Er wird immer leben." "Das geht doch gar nicht!" "In deinem Kopf, in deinem Herzen wird er ewig leben - solange du lebst." "Wir leben doch nicht ewig!" - "Wer weiß."

Ich beschreibe das Meer, mit den Inseln darin, rosige Scheiben, die über unseren Köpfen zu schwimmen schienen, dort draußen, in dem großen, leeren Raum, geworfen, geworfen - da fliegen sie. Das heißt, diese Scheiben gleichen Zielscheiben, oder Frisbee-Scheiben, grün und blau in der Mitte, rosig umrandet, schräg wegsteilend zum Ziel.

Einander verbunden

Ich bin allein zurückgeblieben, in dem Haus am Ufer. Kleine Papageien turnen durch die Zweige der Sträucher vor dem Fenster. Pfeif auf die Papageien! - Die Straße war voller Löcher, mit grobem Schotter bedeckt. Jetzt kommt mir vor, die Löcher sind die Löcher in meinem Bewusstsein, und der grobe Schotter, das ist das raue, aufgeschürfte Material meiner Seele.

Mir kommt vor, als würden die Farben der Papageienfedern Raum und Fläche des Himmels und des Meeres färben. Abgesehen von den Linien der Brecher, die sich an Untiefen und Barrieren überstürzen, schwimmt alles bunt in bunt.

Etwas unerhört Weiches und Liquides ist an der Ansicht: Als wäre dort draußen alles aus einer einzigen opaken, strahlenden, sanft fließenden Flüssigkeit; und indem ich meine Hände mir vors Gesicht hebe, kommt mir vor, es könnte alles noch gut werden, und nirgends eine Ecke oder Kante, an der man sich anstoßen oder gar wehtun könnte.

Lang her, das alles! Mittlerweile bist du aufgewachsen, ein junger Mann geworden. - Was sollen die alten Geschichten, wirst du vielleicht fragen. Gerade heute ging ich durch die Straßen der Vorstadt hier zu deiner neuen Schule hinunter, um dich dort abzuholen. Ein Herbsttag. Wie in diesen abgetretenen Pflastersteinen, den alten, bröckligen, zum Teil jetzt renovierten Fassaden der Häuser, den Leuten, die da wohnen, die Geschichte und Vergangenheit der Stadt aufbewahrt ist, steckt in ihnen, aufs Erste freilich gut verborgen, auch der Plan für die Zukunft. Du warst immer der Uhrmacher Gottes für mich und konntest die Zeit anhalten. Nein, nicht anhalten - aufheben.

Es gibt dann, im rechten Moment, gar keine Zeit mehr. Wir sind immer zusammen, einander verbunden, in ewiger Gegenwart - das werden wir immer sein.

"Hallo, Lucian!"

"Hallo, Papa."

(ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 14./15.03.2009)