"Klein-Tibet", sagen die Bewohner des Campo Imperatore, wenn sie die Hochebene hinter den Dächern von L'Aquila umschreiben wollen.

Foto: Regione Abruzzo

Leandro Giannangeli hat es vorausgesagt: "Keine Chance morgen!" Der Große Stein alias Gran Sasso ist nicht jene schöne Schlafende, die der italienische Dichter Gabriele D'Annunzio mit musischer Verzückung in ihm sehen wollte. Auch wenn seine Schöne für einige magische Augenblicke den dunklen Schleier zurückzog - gerade in jenem Moment, als die untergehende Sonne eine zarte Röte auf ihre Wangen zauberte und die Fremden sich bereits Hoffnungen machten.

Als Majestät von unbestimmtem Geschlecht thront der launische Riese im Herzen des Abruzzen-Nationalparks, nur eine Autostunde entfernt von Rom. In einem Gebiet, das zu den kargsten der Halbinsel gehört. Die Reisenden vergangener Jahrhunderte zogen in weitem Bogen um dieses wilde Land herum. Wölfe und Bären hausten dort in zerklüfteten Tälern, Banditen terrorisierten die arme Bevölkerung. Den Räubern machten im ausgehenden 19. Jahrhundert die königlichen Truppen des neuen Nationalstaates den Garaus, die Wölfe aber überlebten.

In der Nacht dann offenbarte der Gran Sasso seinen wahren Charakter. Er, der Gigant aus Fels und Eis: ein pyramidaler Koloss von 2914 Metern, gesäumt von filigranen Türmen und zackigen Graten, an seiner Nordseite gepanzert von einem arg mitgenommenen Gletscher - dem südlichsten Europas. Sein Toben hielt bis zum Vormittag an, noch nie hatten die Reisenden einen solchen Sturm erlebt.

Wolken über dem Campo

Jetzt, am Morgen, liegen vor dem Albergo Campo Imperatore, einem unverwüstlichen Hotel auf 2135 Metern Höhe, bereits 20 Zentimeter Neuschnee, und das Thermometer zeigt minus 15 Grad. Der Orkan treibt dichte Wolken über den Campo Imperatore, jene zauberhafte Hochebene unterhalb des Gran Sasso. Auf dessen Gipfel wollten die Tourengeher mit Leandro Giannangeli hinaufklettern, doch der Bergführer aus Assergi stand bereits auf dem K2. Bei der Lagebesprechung sagt er nur kurz: "Wir müssen den Plan aufgeben."

"Scheitern am Gran Sasso", das ist im Albergo Campo Imperatore nicht unbekannt, man hat hier schon drastischere Fälle gesehen, wie ein Blick in das "Mussolinizimmer" zeigt. Anna, die Kellnerin, verwaltet heute den Schlüssel zu jenem nur mit Tisch, Stuhl und Bett eingerichteten Raum, in dem der Diktator 1943 nach seiner Entmachtung durch die italienischen Faschisten eine Zeitlang gefangen gehalten wurde. Drei Euro kostet die Besichtigung - ein fairer Preis, wie die Angestellte meint: "Bedenken Sie, dass das der Ort ist, an dem ein Diktator über sein gescheitertes Leben nachdenken musste."

Gegen Mittag hellt der Himmel kurzfristig auf. Ein herrlicher Skitag soll die enttäuschten Gipfelaspiranten milde stimmen, denn für das weniger ambitionierte Brettl-volk halten die 15 Pistenkilometer rund um den Campo Imperatore ideale Bedingungen bereit: Als breite Flaniermeile ist die Pista Monte Portella hervorragend dazu geeignet, die südliche Winterlandschaft zu genießen und nebenbei saubere Schwünge zu setzen.

Von der Bergstation hat man einen grandiosen Ausblick: Im Norden ragt wieder das unbezwingbare Bollwerk Gran Sasso auf. Im Süden und Westen die schrundigen Bergrücken des Monte Ruzza und Monte Rofano, und im Osten, wo sich der Blick im Dunst verliert, fällt das Land in sanften Wellen bis zur Adriaküste hinab, wo bald die Pfirsichbäume blühen. Das Meer ist an diesem Nachmittag nicht zu sehen, auch wenn Leandro Giannangeli schwört, dass das an mindestens 300 Tagen im Jahr der Fall sei. In einem Monat werden sich dort bereits die ersten Strandurlauber tummeln, während die letzten hier oben noch Ski fahren. Vorausgesetzt, der launische Gigant hat nichts dagegen. (Helmut Luther/DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.3.2009)