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Foto: REUTERS/Toru Hanai

"Wenn der Eiserne Vorhang gefallen ist, warum dann nicht auch der 'Bambus-Vorhang'"? Kusang Choden Dahdul, sie flüchtete 1962 aus Tibet, träumt immer noch von "Rangzen", einem unabhängigen Tibet. Wirklichen glauben kann sie nicht mehr daran. Sie habe jahrelang nicht verstanden, warum der Dalai Lama weiterhin auf einen friedlichen Lösungsweg poche. Mittlerweile sehe sie den "Mittleren Pfad" aber als einzige, wenn auch unwahrscheinliche Möglichkeit für Tibet, etwas von seiner Autonomie zurückzubekommen.

Die Ereignisse des Volksaufstandes in Tibet im Jahr 1959 haben sich tief in das Gedächtnis der Lehrerin eingebrannt, die jetzt in Indien lebt. Viele Jahre lang, erzählt sie im derStandard.at-Interview, habe sie die Erinnerungen unterdrückt. Jetzt schreibt sie ein Buch über ihre Erlebnisse. Über ihren Vater, der im Gefängnis von Taring gefoltert und getötet wurde, und ihre Mutter, die kurz nach der Flucht nach Indien starb.

derStandard.at: Vor 50 Jahren waren Sie sechs Jahre alt. Erinnern Sie sich an den Volksaufstand des Jahres 1959 in Tibet?

Kusang Choden Dahdul: Ja, ich war damals wirklich sehr jung. Seltsamerweise habe ich aber keinerlei Probleme damit, die Ereignisse von damals aus meinem Gedächtnis abzurufen. Ich kann mich zwar nicht mehr genau erinnern, was ich gestern zum Mittagessen hatte, dafür umso lebendiger an die Zeit damals. Das ist vermutlich deshalb, weil diese Jahre von 1959 und 1962 so traumatisch für mich waren, dass sie sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Ich habe versucht, diese Erinnerungen über Jahre zu unterdrücken, allerdings ohne Erfolg. Das war ein Fehler.

derStandard.at: Erzählen Sie uns von den Geschehnissen damals. Sie und Ihre Familie flüchteten?

Kusang Choden Dahdul: Ja. Meine Mutter, einer meiner Brüder und ich erlebten eine schier wundersame Flucht über den Nathula-Pass nach Sikkim (indischer Bundesstaat, Anm.) knapp bevor die Grenzen 1962 schlossen. Die schrecklichen Umstände, unter denen wir flüchteten, werden genau in meinem Buch erzählt.

derStandard.at: Sie leben seit 1962 in Indien. Ist Tibet immer noch ihre "Heimat"? Wie gehen Sie damit um?

Kusang Choden Dahdul: Ich lebe zwar außerhalb von Tibet, aber natürlich sehe ich mich als Tibeterin. Ich stehe im Kontakt mit Tibetern auf der ganzen Welt und beobachte aufmerksam, was aktuell passiert.

derStandard.at: Wie war die Situation der Menschen in Tibet vor 1959, der Erinnerung ihrer Familie nach?

Kusang Choden Dahdul: Ich selbst erinnere mich, dass Lhasa ein sehr glücklicher Platz voll von Picknicks und endlosen religiösen Festivals war. Meine Mutter hat mir einmal gesagt, ich solle mir der Gehirnwäsche der Kommunisten in der Schule bewusst sein und nie vergessen, dass wir frei waren, bevor die PLA (chinesische Volksbefreiungsarmee, Anm.) nach Tibet kam.

derStandard.at: Was denken Sie über die Rolle des Dalai Lama im Konflikt zwischen China und der tibetische Exilregierung. Der Weg der Gewaltlosigkeit wird ja teilweise in Tibet auch kritisch gesehen.

Kusang Choden Dahdul: Seine Heiligkeit ist meiner Meinung nach weiterhin der einzige Schlüssel für eine Lösung, die auf dem Verhandlungsweg erfolgen muss. Eine Einigung sollte unbedingt noch zu seinen Lebzeiten erreicht werden. Es bleibt quasi keine andere Wahl, wenn man sich die Situation in Tibet vor Augen führt. Dalai Lama hat sich für den "Mittleren Weg" entschieden (Anm. in diesem Fall "Autonomie statt Unabhängigkeit", der "Mittlere Weg" ist ein Grundprinzip des tibetischen Buddhismus). Die Ironie der Sache ist, dass China nicht glaubt, dass er das ehrlich meint. Ich persönlich, die ich so viel durchgemacht und all dies erlebt hat, hatte ein riesen Problem mit diesem "Mittleren Weg", aber mittlerweile glaube ich, dass ich den Sinn dahinter verstehe. Trotzdem träume ich immer noch von "Rangzen", dem unabhängigen Tibet.

derStandard.at: Im vergangenen Jahr war der Jahrestag der Aufstände Anlass für wochenlange Unruhen. Dabei kamen zahlreiche Menschen ums Leben. Wie haben Sie das erlebt?

Kusang Choden Dahdul: Für mich war das wie ein déjà vu. Das vertraute Gefühl der Hilflosigkeit war sofort wieder da. Ich habe mit den Leuten gelitten und auch meine Albträume suchten mich wieder heim.

derStandard.at: China kann nicht verhindern, dass der Dalai Lama als offizielles Staatsoberhaupt von Tibet international von Staatschefs empfangen wird.

Kusang Choden Dahdul: Ich denke, Seine Heiligkeit hat international viel für Tibet erreicht in den letzten 50 Jahren. Die umfassende internationale Unterstützung, die er sich erarbeitet hat und sein Weg von seinem Status als buddhistischer Führer hin zu einem der bekanntesten internationalen Persönlichkeiten ist schon erstaunlich und gibt uns große Hoffnung.

Wie auch immer, China ist jetzt eine Großmacht und in der aktuellen wirtschaftlichen Situation wird sich kein politischer Führer sich wirklich für uns einsetzen, wenn es hart auf hart kommt. Auch die weniger gebildeten Tibeter sind sich dessen bewusst. Optimismus existiert nicht mehr. Vorbei sind die Tage, als mein 85 Jahre alter Nachbar die Stiegen herauf gehinkt kam, um mir zu erzählen, dass er sich ganz sicher ist, dass ‘Bu George' (George Bush Sr.) Seiner Heiligkeit Tibet zum Geburtstag schenken wird.

derStandard.at: Sie glauben also nicht mehr daran, dass Tibet eines Tages unabhängig wird?

Kusang Choden Dahdul: Die Träumerin in mir sagt: "Ja, natürlich glaube ich daran!" Aber die Realistin ist sich schon nicht mehr so sicher und die Hoffnung in mir meint: "Wenn der Eiserne Vorhang gefallen ist, warum dann nicht auch der 'Bambus-Vorhang'"?

derStandard.at: Wie sehen Sie das Bild des Westens von Tibet als Inbegriff für Friedfertigkeit und Spiritualität?

Kusang Choden Dahdul: Tibet war immer schon ein spirituelles Land und ich höre, dass das auch heute noch so ist, ungeachtet der Unterdrückung. Das hilft den Menschen zu überleben. Friedfertig? Ich denke nicht, dass der Westen dieses Bild seit letztem Jahr noch hat. (mhe, derStandard.at, 9.3.2009)