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Nach der Wut kommen Trauer und Schmerz: alljährliches Gedenken an die Opfer des 11. September 2001 in New York.

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Zdenka Becker, geb. 1951, studierte an der Wirtschaftsuniversität Bratislava und am Dolmetschinstitut in Wien. Sie ist freie Schriftstellerin und verfasst Theaterstücke (zuletzt "Boogie & Blues", Zvolen 2007) und Prosa (zuletzt "Die Töchter der Róza Bukovská", Residenz 2006). Ihr Text ist der letzte in der Serie "Mein Amerika".

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"Haben Sie Feuerwaffen im Gepäck?", fragte mich ein junger Mann in der Uniform der United Airlines beim Einchecken in Missoula. "Meinen Sie das ernst?", antwortete ich mit einer Gegenfrage, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand auf diese Frage mit einem Ja antworten würde. "Natürlich meine ich es ernst", sagte er mit berufsbedingt ernster Miene und sah mich dabei herausfordernd an. "Nein, ich habe keine Waffen im Gepäck", sagte ich. "Und explosives Material?" "Auch nicht."

Endlich wurde mein Flug ausgerufen. Boarding. Nur wenige Passagiere bestiegen die Maschine nach Denver. Die Tür zur Pilotenkabine stand offen. Ich sah, dass wir mit einer Pilotin flogen, die die Maschine sanft in die Höhe brachte. "Ich war meinen Sohn besuchen", sagte mein Sitznachbar nach einer Weile. "Haben Sie auch Kinder?" "Ja, zwei", sagte ich. "Wie heißen Ihre Kinder?" Der Mann gab keine Ruhe. "Lenny und Alice."

"Alice", sagte er und strahlte. "Auch meine Tochter hieß Alicia." "Wieso hieß?", fragte ich. "Alicia war Stewardess bei den United Airlines und starb am 11. September." "Was?", jetzt war ich diejenige, die mit ihm reden wollte.

Warteschleife

"Ich war gerade in der Arbeit. Wir standen alle vor dem Fernseher und konnten vor lauter Schock kein Wort herausbringen. Die Kollegen fragten mich, ob meine Tochter Dienst hatte. Das wusste ich nicht, denn Alicia wohnte schon seit ein paar Jahren nicht mehr bei uns. Noch bevor ich sie anrufen konnte, läutete schon mein Handy, mir schien, in dem Moment läuteten alle Handys in Amerika. Ich kann mich noch erinnern, es war ein sonniger Tag, ein fast kitschig prächtiger Tag, und ich telefonierte mir die Finger wund, um herauszufinden, wo Alicia steckte. Um elf Uhr kam Beverly, meine Frau, ins Büro. Sie war blass und zittrig, versuchte aber trotzdem die Nerven zu bewahren. Wir umarmten uns und standen so ein paar Minuten miteinander verbunden, weil wir Halt brauchten. Und im Hintergrund lief der Fernseher, der die beiden Flugzeuge zeigte, wie sie in das World Trade Center rasten.

Dass es ein Terroranschlag war, wussten jetzt alle, und wer dahinter steckte, konnten wir nur mutmaßen. Aber das war in dem Moment meine geringste Sorge. Wenn ich nur wüsste, wo Alicia war. Dann dachte ich mir, dass United Airlines es am besten wissen müsste. Ich rief an, und es war, wie erwartet, besetzt. Beim zweiten Versuch gelang ich in die Warteschleife, und während ich wartete, rief ich dieselbe Nummer noch von meinem Dienstapparat aus an, und auch dort war nur die Stimme, die mich aufforderte, zu warten.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich wartete, aber auf einmal war jemand dran, und als ich nach dem Dienstplan meiner Tochter fragte, sagte die Dame, dass Alicia frei hätte. Bev und ich sahen uns an, und ein Hauch Hoffnung breitete sich aus, ein Strohhalm, an den wir uns klammern konnten. Shanoa, meine jüngere Tochter, rief an, sie weinte und machte sich Sorgen um Elias, unseren Jüngsten, der an dem Tag Geburtstag hatte. Er besuchte die Abschlussklasse einer High School, die außerhalb der Stadt lag. Ich setzte mich ins Auto und fuhr zu ihm. Bev telefonierte weiter und suchte nach unserer Ältesten.

Hexerei, Magie der Zahlen?

Wie ich die Fahrt überstanden habe, weiß ich nicht, aber als ich ankam, wusste ich, dass alles verloren war. Der Schuldirektor erwartete mich an der Treppe und kondolierte mir. Er umarmte mich und schickte nach Elias. Bev rief inzwischen an, sie wollte es mir während der Fahrt nicht sagen, weil sie Angst hatte, ich könnte einen Unfall verursachen. Sie wusste es von Greg. Greg war Alicias Freund, sie lebten seit zwei Wochen zusammen."

John machte eine Pause. Seine Gesichtsmuskeln verspannten sich, es sah so aus, als ob er weinen müsste. "Es ist Jahre her, aber ich kann mich damit immer noch nicht abfinden. Und ich frage mich täglich: Warum meine Tochter? Wissen Sie, ich bin ein gläubiger Katholik, und ich habe mich bemüht, ein guter Mensch zu sein. Sicher, ich habe auch Fehler gemacht, wer macht sie nicht, aber musste mich Gott so hart bestrafen? Gerade an so einem Tag.

Der 11. September ist für meine Familie und mich ein besonderer Tag. Ein Tag der Geburten und Todesfälle. Ob Sie es mir glauben oder nicht, dieses Datum brachte uns Freude und Leid. Am 11. September wurde mein Vater und unser jüngster Sohn geboren, am 11. September starb mein Bruder bei einem Autounfall, ein paar Jahre später, Janet, die Schwester meiner Frau, an Krebs. Und am 11. September haben wir Alicia verloren. Was ist das? Hexerei, Magie der Zahlen, eine geheime Verschwörung?"

Sicherheitsgurt

Das Flugzeug, in dem wir saßen, begann zu vibrieren und rütteln. Über uns leuchtete die Anzeige "Fasten Seat Belts". Ich griff nach der Schnalle meines ohnehin geschlossenen Sicherheitsgurts und überprüfte noch einmal, ob er zu war. Der Kopilot meldete sich und sagte, dass wir eine Gewitterzone überfliegen und die Turbulenzen bald vorüber sein würden. Er bat noch einmal die Passagiere, sich anzuschnallen. Mein Sitznachbar machte auch nach dieser Aufforderung den Sicherheitsgurt nicht zu.

"Sie sollen sich anschnallen", sagte ich beunruhigt und reichte ihm den Gurt. Er schnallte sich an und griff nach meiner Hand. "Keine Angst", sagte er, "es wird uns nichts passieren." Die Turbulenzen nahmen zu. Die Maschine sackte ab und flog von heftigen Stößen durchrüttelt weiter. Die Passagiere schrien, dann war es still. John, als ob er nicht bemerkt hätte, in welcher Situation wir uns befinden, erzählte weiter. "Die Terroristen haben die UAL 175 um 8.40 Uhr in ihre Gewalt gebracht. Was danach geschah, konnte das FBI leicht rekonstruieren.

Nach und nach erfuhren wir alle Details: Im Flugzeug saßen 56 Passagiere, sieben Flugbegleiter und zwei Piloten. Die Maschine startete pünktlich um acht. Kurz vor drei viertel neun riefen zwei Passagiere und ein Flugbegleiter Angehörige an, dass die Maschine entführt worden war. Die Terroristen hatten die Piloten erschossen und die Steuerung übernommen. Um 9.03 Uhr passierte es, wir verloren Alicia. Die beiden Türme des World Trade Centers kollabierten. Den Rest wissen Sie sicher aus den Nachrichten."

Hass der Taliban

John atmete schwer, sein Erzählfluss wurde langsamer. "Am schlimmsten war, dass wir uns von Alicia nicht verabschieden konnten. Die Suchtrupps suchten Ground Zero Millimeter für Millimeter ab und identifizierten Körperteile, Wrackteile, Gegenstände aus den Flugzeugen und Gebäuden. Sie fanden verstümmelte Leichen, versengte Kleidungstücke, Schuhe, Taschen, Uhren, ein paar weibliche Hände mit einem Spagat zusammengebunden, die wahrscheinlich einer Stewardess gehörten, die aber nicht Alicias waren. Es wäre furchtbar gewesen, wenn sie uns ein Stück von Alicias Körper zu identifizieren gegeben hätten, aber wir hätten etwas, wovon wir uns verabschieden hätten können.

Es war aber nichts da, was eindeutig zu unserer Tochter passen würde. Bev und ich gaben unsere DNA-Proben ab, die mit den Fundstücken verglichen worden waren, aber keine der gefundenen Proben vom Ground Zero passte zu unseren Werten. Dann fanden sie doch etwas, das eindeutig Alicia gehörte: ihren Büchereiausweis und ihre Kreditkarte. Beide waren angesenkt und völlig schwarz, aber den Kriminalisten ist es im Labor gelungen, die beiden Plastikkarten, die aus ihrer Geldbörse herausgefallen waren, zu identifizieren. Und als die Untersuchungen abgeschlossen waren, bekamen wir diese zwei Stücke anstelle unserer Tochter.

Und jetzt frage ich mich, was wir falsch gemacht haben, das uns den Hass der Taliban eingebracht hat. Dass sie uns so sehr hassen, dass sie unsere Bürger ohne Auswahl töten und vernichten. Seit Jahren führt unser Land eine rücksichtslose Politik, die dem Wirtschaftswachstum, aber nicht den Menschen dient. Aber das Fatale daran ist, dass bei aller Bemühung sogar die Wirtschaft den Bach hinuntergeht und die Amerikaner, gehasst und geachtet von der ganzen Welt, um ihre Sicherheit bangen müssen. Ich möchte nicht politisieren, und schon gar nicht, wenn es um meine Tochter geht, aber ich habe den Sieger, den Mann, der unser Land regiert, nicht gewählt. Nicht das erste Mal und auch das zweite Mal nicht, obwohl er uns die Auslöschung von Terrorismus versprach.

Und je mehr Bomben Mr. Bush in Asien abwirft, umso mehr fürchten wir uns, weil Terror nur Terror erzeugt und wir mit Angriffen nicht erreichen werden, dass uns jemand dafür lieben wird können. Die Wut hilft nur ein bisschen. Sie ist ein Ventil, wenn der Druck unerträglich wird. Aber nach der Wut kommen Trauer und Schmerz. Und was dann? Wegrennen? Sich in der Arbeit vergraben? Mit Alkohol und Pillen betäuben?"

"Ich bin ein Mensch, der Rituale braucht. Ich bestellte einen normalen Sarg, legte die Plastikkarten, die Alicia gehörten, hinein und organisierte eine Trauerfeier im engsten Familienkreis. Wir standen um den Sarg, in dem unsere Tochter nicht lag, und waren in Gedanken bei ihr."

Während John erzählte, wie die Bestatter den Sarg in die Erde ließen und er, seine Frau und Alicias Geschwister krümelige Erde nachwarfen, und dass er immer noch nicht weinen konnte, rannen mir Tränen die Wangen herunter. John reichte mir ein Taschentuch. "Wie alt sind Ihre Kinder?", fragte er. "Mein Sohn feierte gestern seinen Dreißiger, die Tochter ist um fünf Jahre jünger." "Als Alicia starb, war sie siebenundzwanzig." In dem Moment packte mich eine so starke Sehnsucht nach meiner Familie, dass mir fast schwindlig geworden war. "Bleiben Sie lange in New York?", fragte er. "Vier Tage, dann geht es zurück zu meinen Lieben." (Von Zdenka Becker/