Sehr geehrte Damen und Herren, erlauben Sie mir bitte zuzugeben, dass ich den Terminus "Kulturpublizist" für blöde halte.

Da ist einmal der Publizist: Von einem Menschen zu sagen, dass er publiziert, veröffentlicht, sagt ja gar nichts, geschweige denn etwas über ihn. Es kömmt darauf an, was einer publiziert; dass einer publiziert, ist keine intellektuelle, sondern eine marktgängige Kategorie. Denn es ist, frei nach Walter Benjamin, dem Medienmarkt gleichgültig, womit er gefüllt ist, die Hauptsache ist, dass er gefüllt ist.

Man kann sich schwer vorstellen, dass die Gedankenleere einer Bezeichnung wie Publizist, noch überbietbar sein könnte. Aber da ist ja schon der Kulturpublizist / die Kulturpublizistin. Die Kultur scheint jedoch per definitionem so groß, so umfassend, dass alles, was in ihr publiziert wird, am Ende doch nur Kulturpublizistik gewesen sein konnte.

Als Kulturpublizist gebe ich weiters zu, dass ich der Kulturpublizistik meines Kollegen, des ehemaligen Direktors des Historischen Museums von Wien, Seipel, mit großem Interesse entgegensehe. Auch, weil ich wissen möchte, womit man in unserem ausgehungerten Beruf, in unserer ausgehungerten Branche, gutes Geld verdienen kann.

Vor allem aber, weil die vom ehemaligen Direktor durchzuführenden Studien Titel tragen, die uns sagen, was Kultur ist. Sie heißen nämlich: "Strategische Ansätze zur Weiterentwicklung der österreichischen Bundesmuseen unter besonderer Berücksichtigung der Forschung als Fundament der Sammlungs- und Vermittlungsarbeit im Internationalen Kontext" und zweitens - kürzer, ohne bündiger zu sein: "Vergleich nationaler und internationaler Kulturvermittlungsarbeit an renommierten Kulturinstitutionen."

Das belehrt uns, was marktgängig und amtsbekannt als Kultur verstanden wird, nämlich (seit dem 19. Jahrhundert) die "renommierten", gewiss nur die renommierten (denn "Kultur" ist natürlich ein wertender Begriff) Theater, Konzertsäle, Museen, dergleichen und das aufregende Treiben, das sie ermöglichen, aber auch verhindern und das organisiert wird (das Treiben ebenso wie seine Verhinderung), das organisiert wird nach verwaltungstechnischen, bürokratischen Prinzipien, die im Schlepptau eben diese Sprache haben: Strategische Ansätze zur Weiterentwicklung unter besonderer Berücksichtigung ...

Nun, der Staat zeichnet heute einen Kulturpublizisten aus, der nicht dieser Tradition, nicht dieser, in Österreich so gut genährten vergangenheitszelebrierenden Fraktion der Kultur entstammt. Würde ich die Tradition definieren, der Robert Misik ebenso angehört wie er sie auf seine Art weiterführt, dann ist es für mich die klassische Tradition der kritischen Intervention durch öffentliche Rede - also eine Tradition, für die in unserer Kultur, der deutschsprachigen, Heinrich Heine am zugleich unerreichten Anfang steht.

In dieser Tradition ist die Schwerkraft bürokratischer Sätze der Lächerlichkeit preisgegeben und man muss schon einen gewissen Witz haben, um für die besagte Tradition in Frage zu kommen. "Beim Börsencrash 1929", schrieb Misik jüngst, "sprangen Makler, die alles verloren hatten, in ihrer Verzweiflung aus ihren Büros in der Wall Street. Heute lohnt es sich aber nicht, dort hin zu gehen, um zu sehen, ob einer hüpft. Denn wegen der Air Condition lassen sich die Fenster nicht mehr öffnen."

Der Witz liegt nicht nur im Zitat, sondern auch in dem Kontext, dem ich es entnommen habe. Es stammt nämlich aus einem Video-Blog für den STANDARD, und so ein Video-Blog, wie ihn Misik betreibt, ist in meinen Augen eine ernsthafte Ironisierung der Kommentierung des Weltgeschehens, wie man sie zum Beispiel aus dem ORF kennt, der uns ja, wer sonst als der ORF?, die Welt erklären muss.

Der zitierte Blog, in dieser Folge "Ende des Kapitalismus" genannt, zeigt den Kommentator Robert Misik umgeben von einer Montage aus zusammenstürzenden Neu-und Altbauten - es hat etwas Klugesches, etwas Alexander Klugehaftes / und ich zitiere den Blog nicht zuletzt deshalb weil ich drauf hinweisen möchte, dass Robert Misik, der vom Journalismus herkommt und sich beruflich selbstständig gemacht hat, formal vielfältig arbeitet. Der geschriebene Artikel, wenn er von Misik stammt, kann eine Glosse sein, eine Reportage oder eine Rezension. Schließlich - ein Buch, aber davon später.

Selbstständig sein heißt, keinen Vorgesetzten zu haben, der einem die Vielfältigkeit austreibt, austreiben muss, denn ein Vorgesetzter benötigt ja immer jemanden, auf den er bauen kann und den er immer dort einsetzt, wo er schon erfolgreich eingesetzt war. Darauf lässt sich ein freier Schriftsteller niemals ein.

Selbstständigkeit (und das - jenseits der Emphase - heißt: Freiberuflichkeit, also ziemlich prekäre Arbeitsverhältnisse), Selbstständigkeit, spöttische und/oder auch von Theorien motivierte Interventionen in die aufgebrochenen gesellschaftlichen Konflikte, Vielfalt in der Arbeitsweise - das sind Eigenschaften dieses Publizisten.

Aber der für mich der wesentliche Grund, ihn zu loben, für mich der wesentliche Grund, ihn einen idealen Preisträger des Staatspreises für Kulturpublizistik zu nennen, das ist der folgende: Robert Misiks Arbeit kreist sozusagen ein und konstituiert damit, was ein zeitgenössischer Mensch unter Kultur verstehen kann.

Ich werde jetzt den Teufel tun und Kultur definieren, ich sage nur: Diese von Misik beschriebenen und von ihm riskant in Zusammenhang gesetzten Elemente aus Ökonomie, Mentalitätsgeschichte, Ideologiekritik und Soziologie, auch die polemischen Züge und die Analyse von sozialen Tendenzen, das alles zeichnet den Begriff der Kultur, wie man ihn zum Verständnis dieser Welt brauchen kann, und wie er diesem Verständnis nützt / oder sicherlich nicht schadet.

Ich zitiere, um noch etwas anderes über Misik behaupten zu können, ein paar Schlagzeilen, die unter der Überschrift POSTDEMOKRATIE eines Artikels von Misik lauten: "Entpolitisierte Wählerinnen dürfen zwischen profillosen Parteien auswählen. Die gute Nachricht: Dafür funktioniert die liberale Demokratie eigentlich erstaunlich gut. Die schlechte: Es ist nicht gesagt, dass es so bleibt."

Daran interessiert mich selbstverständlich die Sache, das Ausgeleierte des Politischen sowohl im Publikum als auch bei den Darstellern auf der politischen Bühne; es interessiert mich aber auch die für Misik so typische, das Schematische nicht scheuende Abwägung von guter und schlechter Nachricht.

Dahinter steht für mich in erster Linie eine Distanzierung von überkommener Kulturkritik - diese nämlich ist (so wie ich meistens) schlecht gelaunt und lehrt der Wirklichkeit Mores. Bis heute noch hat Kulturpublizistik leicht einen konservativen anti-modernistischen Unterton.

An Misiks Arbeiten kann man beobachten, wie ihr Autor versucht, sowohl der Falle des Optimismus als auch der des Pessimismus zu entgehen, und da hat dann selbst die Finanzkrise eine schöne Seite: "Das ganze Gerede von der 'Risikofreudigkeit', die man den Menschen antrainieren müsse und von der ‚schöpferischen Zerstörung', für die der Kapitalismus sorge - es wird jetzt nur mehr von halben Irren angestimmt. Gut möglich, dass wir in ein paar Monaten in den rauchenden Ruinen des Kapitalismus sitzen. Wenn der Kapitalismus überlebt - dann, weil ihn der Staat gerettet hat. Mit der monströsen Frivolität, die im Wirtschaftsleben Einzug gehalten hat, ist jetzt Schluss."

Schon wieder muss ich was zugeben, nämlich dass ich nicht so optimistisch bin; es könnte ja erst recht wiederum eine frivole Monstrosität sein, dass der Staat nicht mich rettet, sondern die Erste Bank finanziell bei Laune hält. Aber die Zitate zeigen, von der Sache her, worum es Misik geht; es geht ihm darum, die Zeit auf ihre Begriffe zu bringen; es geht ihm um Gegenwartsanalyse, die nicht rein betrachtend ist, sondern die streitend eingreift.

In diesem Sinne hat der Autor eine Reihe von Büchern verfasst. Darunter "Marx für Eilige" - und ganz klar, jetzt, heute noch, ist es mit Marx hoch an der Zeit. Dann, und das ist für meine Arbeit Misiks wichtigstes Buch: "Das Kult-Buch" - es heißt im Untertitel: "Glanz und Elend der Kommerzkultur." Glanz und Elend, das sind pathetisch-ironische Formeln für dieses schon zitierte typische Abwägen, bei dem die der Kulturkritik eingefleischte Verdammung der Kommerzkultur keine Chance hat. Konsumkritik, ja, aber richtig!

Diese Balance in den Argumenten, dieser Hinweis auf die schlechten Seiten, ohne die guten außer Acht zu lassen, macht etwas wett, kompensiert etwas, das auf die Kritische Theorie zurückgeht und das - möglicherweise - deren Mangel darstellt. Die Kritische Theorie, von der Robert Misik ohne Zweifel beflügelt ist, war mit der schlechten Nachricht allein zufrieden, ja, glücklich. Schlecht und recht habe ich eine Anekdote in Erinnerung, in der Adorno und Bloch auf hoher See über die Reling blickten und Adorno seufzte etwas von "Flaschenpost". Darauf Bloch: "Was für eine Nachricht würdest Du denn wohl senden. Sicher nur: Mir geht's so schlecht ..."

Die Kritiker der Kritischen Theorie haben den Absolutismus der schlechten Nachricht entschieden relativiert. "Ich bin", sagte zum Beispiel der Philosoph Odo Marquard 2003, "gegen den großen Außerordentlichkeitsbedarf, auch im Negativen. Die Menschen haben schon genug Probleme, auch diesseits des absoluten Ausnahmezustands: diesen unendlichen Krisenstolz können wir uns gar nicht leisten."

Über Kritik veröffentlichte Robert Misik das Sachbuch: "Genial dagegen. Kritisches Denken von Marx bis Michael Moore." Es ist langweilig, es zu wiederholen, aber da sich nichts ändert, wiederhol' ich es halt: Die Kritik, die einst in der 68er Zeit, unter Adorno zum Beispiel, vielleicht wirklich ein Fetisch war, ist in Österreich, gerade in dem von heute, eine Randerscheinung.

Anderswo hat die Hyperkritik, die mit einer Kritik an der Kritik arbeitet, anderswo hat die Hyperkritik die Kritik längst schon in den Schatten gestellt. In unserer schönen Heimat, wo sich kein Mensch in der Kritik sonnt, herrscht eine seltsame Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen / und diese Unfähigkeit wiederum wirkt zurück auf die, die Kritik üben. Sie ergänzen einander, nämlich die, die Kritik üben und die, an denen sie geübt wird. Das ist eine der Formeln, die nolens volens den österreichischen Journalismus beschreiben.

Also lesen Sie, sehr geehrte Damen und Herren: "Genial daneben" von Robert Misik, und während ich bereits an dieser Rede arbeitete, erschien ein neues Buch des heute ausgezeichneten Autors: "Politik der Paranoia. Gegen die neuen Konservativen."

Ich hab's noch nicht gelesen, aber ich wette, das Buch (das bereits mit dem Hinweis: Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2008 wirbt), ich wette, das Buch richtet sich nicht zuletzt gegen einen Konservatismus, der seine eigenen Widersprüche ausblendet und gegen alles polemisiert, was das Leben leichter lustiger, aber auch gerechter machen könnte.

In diesem Sinne ende ich, gemessen am Anfang, versöhnlich und erinnere daran, was marktgängig eben "Kulturpublizist" heißt: Publizist - so will es der Sprachgebrauch - ist einer, der nicht nur, wie jeder Journalist, Artikel schreibt, sondern der auch Bücher schreibt. Glänzend erfüllt diese Bedingung Robert Misik, dem ich zum Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik 2008 herzlich gratuliere. (Franz Schuh/derStandard.at/4.3.2009)