Regisseur Peter Konwitschny auf einem Ausflug in die finstere Schauspielwelt von "König Lear": Probenarbeit für den Untergang. Premiere: 23.2, 19.30 Uhr.

 

 

Foto: Manninger

Der Schrecken aller "Werktreuen" erläutert sein finsteres Konzept.


Graz - Als der weltberühmte Opernregisseur Peter Konwitschny (64) begann, sich vom Musikbetrieb, den er zu dieser Zeit als "stupide" empfand, eine Auszeit zu nehmen, schlug er seine Zelte in Graz auf. Um auf andere Gedanken zu kommen, besuchte er in der vergangenen Spielzeit Abend für Abend das Schauspielhaus: "Die Leute hier glaubten schon, ich würde die Schauspieler studieren. Man nahm an, ich sei der Intendanz bereits im Wort und würde bald anfangen, im Haus etwas zu inszenieren."

Doch Intendantin Anna Badora musste sich erst ein Herz fassen. Als sie Konwitschny endlich angesprochen hatte, kreisten seine Gedanken um ein vor vielen Jahren entwickeltes Konzept.

Konwitschny wollte zuerst Brechts Galilei inszenieren. ("Das Stück sei zu didaktisch, wurde gesagt. Natürlich ein Vorurteil!") Als man schließlich auf Shakespeare stieß, entsann sich der gebürtige Leipziger, der in den 1980ern in Halle/Saale en passant den Umgang mit der Barockoper revolutioniert und später Richard Wagner den Besitzstandswahrern entrissen hatte, der obendrein Kálmáns Czárdásfürstin im Schützengraben inszenierte (2000 in Dresden) und damit beinahe die Semperoper zum Einsturz brachte, eines uralten Traums. Er grub ein König Lear-Konzept aus. Premiere hat seine Grazer Lear-Inszenierung am  Dienstag (19.30 Uhr).

Diese erzählt nun nicht von einem alten Mann, der von der Höhe seiner Machtvollkommenheit aus in Wahnsinn und finstere Nacht hinabstürzt. Wenn Konwitschny erzählt, entfalten strapazierte und selbst zerschlissene Stoffe einen Parabelcharakter. Er füllt keine Stückformulare aus, um der Gesellschaft Kritikwürdigkeit zu attestieren. Er fasst gattungspolitische Fragen in den Blick. Konwitschny erinnert an jenen Kosmonauten, der anlässlich der ersten Weltumkreisung an die sowjetische Bodenstation funkte: "Dunkel ist der Weltraum, Genossen - sehr dunkel!"

Entblößung der Welt

Die vom Grazer Opernchef Jörg Koßdorff ersonnene Bühne zeigt eine im Kern entblößte Welt: Rund 150 Besucher sitzen während der ersten beiden Akte auf der Bühne. Ein schmaler Steg führt mitten durchs teilweise besetzte Parkett, während eine Leiter in den Rang hinaufführt. Auch in den Logen nisten "Höflinge"

Lear (Udo Samel), der sein Reich an die Töchter wie ein Viehbauer veräußert, von Cordelia, der jüngsten, aus Liebe zurückgewiesen wird und schließlich auf die nackte Weide hinausirrt, um seine Leichtfertigkeit mit Erniedrigung und Entblößung zu büßen, ist keineswegs Konwitschnys "Held". Sein Lear sieht eine tiefergehende Bankrotterklärung vor: "Wir zeigen zu Beginn eine vorbürgerliche Welt mit historischen Kostümen. Zur Zeit der Entstehung, also zu Anfang des 17. Jahrhunderts, gab es noch kein bürgerliches Guckkastentheater. Alles ist noch körperlicher: noch nicht so verlogen, so übertüncht durch Illusionen. Alles ist handfester, lauter, dreister, witziger - eben lebendiger."

Konwitschny will aber keine "Individuen" zeigen, sondern einen unumkehrbaren Verfallsprozess, der unsere Zivilisation aus den Angeln kippt: "Warum verweigere ich das bürgerliche, anonyme Theater? Das Chaos ist zu Anfang noch nicht so weit fortgeschritten, es gibt noch Zukunft. Im zweiten Teil aber haben wir sie endlich: die stupide Guckkastenbühne!"

Damit werde das Wichtigste an seiner Konzeption klar: "Die Geschichte dieses alten, bedauernswerten Mannes wird mitten im Stück sekundär. Die andere Fabel meint den Untergang der Kultur, die eine patriarchalische ist - den Tod Gottes. Den proklamiert Nietzsche zwar erst 1880, der Prozess setzt aber schon viel früher ein."

Wenn aber Lears herzzerreißender Niedergang unumkehrbar in Tod und Finsternis endet, warum dann die Phasen von Plüsch und schönem Schein? Konwitschny beantwortet solche Fragen mit einem wahren Wolfslächeln: "Es gibt eine Faustregel für Regie: Es genügt nicht, keine Ideen zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken!"

Kern der "zweiten" Fabel

Er frage sich: "Wie bekomme ich ausgedrückt, dass in der Mitte des Stücks eine zweite, mächtigere Fabel zu erzählen ist? Ich muss das ja in die Sprache des Theaters übersetzen. Lears Gefolgsmann Gloster wird bekanntlich geblendet. Diese Blendung kehrt ein zweites Mal wieder - nach der Pause, in wiederum veränderten Raumverhältnissen." Die menschlichen Bindungen seien dann dabei, den Kältetod zu sterben: "Auch die Kostüme sind weg: diese historischen Scheißdinger, die uns die ganze Zeit etwas vorgegaukelt haben!"

Am Ende, sagt Konwitschny, würden alle in schwarzen Anzügen stecken. Die Figuren fallen aus ihren Bezügen heraus, werden anonym, verlieren ihre "Gesellschaftlichkeit": "Die Texte des fünften Akts sind nurmehr noch Torsi. Die Zuschauer bekommen gerade noch mit, dass sich alle hier gegenseitig zerhacken!"

Schweigen lastet über der ausgekühlten Szene. Peter Konwitschny erweckt nicht den Eindruck, als ob er auf die Faschingsdienstagslaune der Premierenbesucher Rücksicht zu nehmen gedenke. Er sagt: "Alle Beziehungen in unserer patriarchalischen Gesellschaft sind tendenziell gewaltförmig: Wir unterdrücken uns gegenseitig und beuten uns aus. Als einziges Maß unserer Unterscheidungsfähigkeit dient der Profit. Da sich die Natur aber langsam zur Wehr setzt, scheint es mit unserer Zukunft nicht mehr weit her zu sein."

Kein beunruhigender Gedanke, wie Peter Konwitschny meint: "Alle Kulturen versinken einmal, also warum nicht auch die unsere nach fünfeinhalbtausend Jahren? Wir können ja Raketen bauen und uns absetzen!" Ob das Geschichtsoptimismus sei? Wieder dieses wölfische Lächeln: "Ich muss mich in eine solche Rakete ja nicht hineinsetzen!" (Ronald Pohl / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23.2.2009)