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Der Spam-Ordner als Sammelbecken für geheime Wünsche.

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Die Größe und Gewalt des Internets, das, wie man uns erzählt, auf der Ebene seiner kleinsten Teile aus Nullen und Einsen allein besteht, erklärt sich manchmal am besten in einer kleinen Nebenrechnung. Mehr als 100 Milliarden E-Mails werden jeden Tag auf der Welt verschickt. 96,3 Prozent dieser Postmasse sind laut der IT-Beratungsfirma Ironport unerwünschte Nachrichten, sogenannte Spam-Mails. Auch wenn diese Nachrichten im Durchschnitt nur etwa drei Kilobyte groß sind, so ergibt der Spam-Verkehr in der täglichen Summe doch eine Datenmenge von mehr 288,9 Milliarden Kilobyte. Eine Textseite wiederum ist etwa 50 Kb groß, sodass jeden Tag knapp 5,78 Milliarden Textseiten im globalen Spam-Ordner landen und später ungelesen gelöscht werden – eine Informationsmenge, mit der sich Staatsarchive und Nationalbibliotheken füllen ließen. Aber sind diese Nachrichten nur binärer Unrat, Werbe-Flyer für Potenzpillen und Pornografie? Oder haben die eindeutigen Botschaften – gib mir dein Geld, deine Kreditkarteninformationen, deine PIN-Nummern – doch einen darüber hinaus gehenden Informationsgehalt?

Werbung für Generika und gefälschte Markenartikel

Spam-Mails sind kein Müll, sie haben einen Zweck: Die Absender machen Werbung für Generika und gefälschte Markenartikel, verschicken Viren und Trojaner, um an private Daten zu gelangen oder versuchen, die Empfänger in ein Netz aus Texten und Träumen hinein zu locken, in dem von afrikanischen Prinzen und exotischen Nummernkonten die Rede ist, Pulp-Literatur. Und: Spam-Mails werden gelesen. Laut einer Studie des Magazins Consumer Report kaufen jeden Monat eine halbe Million Internetnutzer in den USA ein Produkt, das ihnen per Spam angeboten wurde.

Die Frage ist nun, was kann man aus dem Angebot über die Nachfrage lernen? Eine quantitative Analyse der Betreffzeilen ergibt eine modifizierte Maslow'sche Bedürfnispyramide. Sex, Stehvermögen und Status – der Spam-Ordner ist ein Sammelbecken für geheime Wünsche, dunkle Gedanken, einfache Triebe. Das digitale Über-Ich versucht das Böse und Schmutzige mithilfe von Firewalls und Filtern vom klinisch sauberen Raum der Prozessoren und Software-Formeln fernzuhalten. Eine klassische Verdrängungsreaktion.

Erste Spam-Mail 1978

Die erste Spam-Mail wurde am 3. Mai 1978 verschickt. Gary Thurek, ein Vertreter der Firma DEC Computer, plante eine Produktpräsentation und hatte die geniale und grausame Idee, die Einladung nicht wie üblich an einzelne Individuen zu verschicken, sondern einfach an alle Teilnehmer eines lokalen Netzwerks in Kalifornien. Dieser Funken, den Thurek vor mehr als 30 Jahren durch die Leitungen schickte, markierte eine Revolution der Werbung, also des, wie es im Lexikon der Sprachwissenschaft von Hadumod Bußmann steht, "öffentlichen, auf Verhaltenssteuerung gerichteten Sprachgebrauchs". Werber müssen verführen, überzeugen, beweisen und betonen in Zeitungsannoncen und TV-Spots das Preis-Leistungs-Verhältnis, die Verarbeitungsqualität oder den immateriellen Gehalt eines Produkts ("Auto Emotion"!). Spam-Mails umgehen diesen Kommunikationsprozess, sie wollen keine komplexe Handlung wie eine Kaufentscheidung auslösen oder die Einstellung verändern; ihr Stil ist ein direkter und zielt nur auf die Provokation einer blitzschnellen und vorbewussten Aktion: des schnellen Klicks.

Provozierend und überraschend

Das Hauptmerkmal von Anzeigen und Werbeclips ist laut Bußmann "die Indirektheit der sprachlichen Strategien und Ausdrucksmittel", die zugunsten des mehr oder weniger versteckten Werbeappells instrumentalisiert werden. Wortfolgen wie "Geiz ist geil"oder "Red Bull verleiht Flügel" sollen provozierend und überraschend wirken, poetisch, verspielt oder einfach nur komisch, und erreichen in seltenen Fällen auch den Rang einer kulturellen Institution. Die kreative Qualität der Sprachschöpfung ist ein Teil des Produkts. Im Zeitalter des Spam wird der Slogan durch die Betreffzeile ersetzt. "Swingers Party Invitation inside – explicit" steht dann im Posteingang, "the Truth about losing belly fat" oder "Your check is waiting". Die Betreffzeile soll den Empfänger erregen oder verwirren, sodass er nicht anders kann, als die gefährliche Botschaft mit dem Maus-Cursor zu berühren.

Natürlich setzen die meisten Spam-Autoren auf knallharte Porno-Parolen, manchmal gehen sie aber auch subtiler zu Werke, spielen mit den sozialen Sehnsüchten des einsamen Subjekts vor dem Computerschirm. "Diane von Facebook will dich kennenlernen", lockt eine Mail. In einer anderen Betreffzeile steht: "Warum hast du nicht angerufen?" oder "Treffen wir uns am Samstag?". Die Spam-Mails docken an die traditionelle Bedeutung des Briefs an, die im Zeitalter der verstopften elektronischen Briefkästen nicht völlig entwertet ist; ein Brief bedeutet, dass da draußen jemand an einen gedacht hat. Das gilt selbst für die besonders geniale Betreffzeile: "You are an idiot."

Aktuelle Ereignisse

Immer wieder beziehen sich Spam-Betreffzeilen auf aktuelle Ereignisse. Einige Monate vor der Fußball-WM 2006, am Höhepunkt der Hysterie um Eintrittskarten, versprach eine Spam-Mail den Empfängern, dass sie zu den glücklichen Gewinnern der Lotterie gehörten, als 2007 der Orkan "Kyrill" über Europa hinwegfegte, wollte ein Spammer mit der Betreffzeile "230 Tote durch Sturm über Europa – Wetterinfo" die besorgten Menschen dazu bringen, dass sie durch einen unbedachten Klick ein Spionage-Programm auf der Festplatte des Rechners installierten. Im November 2008 dann die Nachricht: "See President Obama in your town – for free".

Der Ordner "Unerwünschte Mails" enthält eine krude Meta-Erzählung, die sich aus Nachrichtentickern und Titelzeilen genauso speist wie durch die kollektiven Hoffnungen und Ängste der Menschen. In diesen Tagen stehen oft Worte in den Betreffzeilen, die einen monetären Ernstfall suggerieren, oder, besser, eine Gelegenheit, diesem Ernstfall doch noch zu entgehen: "Your Wallet", "Lottery Ticket", "Letzte Mahnung". Und wirklich warnen die Sicherheitsexperten von McAfee davor, dass Menschen in Zeiten der Wirtschaftskrise dazu neigen, die Spam-Mails anzuklicken. „Wenn Leute Geldsorgen haben, dann sehen sie die Dinge in anderem Licht.“

"Du bist ein Idiot"

Analogen Anzeigen entgeht der Mensch durch Fernbedienung oder hartnäckiges Überblättern – vor der maschinengenerierten Werbung schützen nur Maschinen. Anti-Spam-Software arbeitet mit einer schwarzen Wortliste und sortiert E-Mails aus, die Reizworte wie Sex, Sonderangebot und Viagra enthalten. Darüber hinaus prozessieren moderne Programme den gesamten Text einer Mail durch semantische Filter, welche anhand statistischer Worthäufigkeiten für jedes Wort die Wahrscheinlichkeit errechnet, ob eine Mail, die eben dieses Wort enthält, eine erwünschte Nachricht ist. Die Spam-Autoren müssen ihre Botschaften also so gestalten, dass sie einer normalen, erwünschten Kommunikation gleichen – zumindest im kühlen Blick der Filterroutine.

Dieser strategisch-funktionale Umgang mit der Sprache hat kreative Aspekte. Die Spam-Autoren remixen die Signalwörter, ergänzen sie mit Sonderzeichen oder mischen verschiedene Sprachen: V1agr@, /1agro, C1@Li2 – die Lektüre des Spam-Ordners ist eine Lektion darin, auf wie viele Arten man Viagra schreiben kann, ohne Viagra zu schreiben. Die Verschiebung von Buchstaben erinnert an Stilmittel der Lyrik, an Verfremdung und Assonanz – die Spam-Mail als Hommage an Sprachdadaisten wie Ernst Jandl, der in seiner Umschrift den Schöpfungsbericht durch Beigabe der Laute sch und l verfremdete: "schim schanflang war das wort schund war blei ..."

Semantische Aufladung

Eine andere Strategie ist die semantische Aufladung der Müll-Mails. Die Autoren assoziieren ihre Pornos, Scams und Fakes mit normalen, positiven Begriffen und Sätzen. In Spam-Mails finden sich deshalb neben Preis- und Kontaktinformation oft auch eine Anhäufung von seltenen Vokabeln wie Kernspaltung oder Derivate, zusammen mit Fragmenten bekannter Texte wie Hesses Siddharta oder Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry, Nachrichtenmeldungen, Bedienungsanleitungen, Blockbusterpartikel. Der E-Mail-Text wird zum Remix des medialen Rauschens, das uns umgibt, ein kryptischer Text voll bekannter Phrasen, Alltagsreferenzen und bläulich schimmernder Links, der zum Dechiffrieren, Assoziieren, Analysieren einlädt; also Verhaltensweisen provoziert, die wir im Umgang mit der Literatur pflegen.

Sprache, so heißt es, verweist immer auf etwas Außersprachliches. Aber was fängt man mit der Wortfolge "Etheral sugar spheres" an? Transzendentaler Glukose-Kosmos – das klingt schon besser als billige Rolex-Plagiate oder die längste Erektion aller Zeiten. Letztendlich bleibt es dem Gehirn, dem humanen Prozessor, jedoch verwehrt, die vielen tausend Quellen und Links der Spam-Texte zu einem kohärenten Ganzen zu verbinden. Vielleicht ist es das, was den Mensch wirklich an den Spam-Mails stört: nicht die unseriösen Angebote oder das kommunikative Störfeuer, sondern die Tatsache, dass da ein elektronischer Sender mit der eigenen Hard- und Software kommuniziert und lautlos verhandelt, ob die Mail im Posteingang gelandet ist oder ob nun doch ein Schadprogramm auf der Festplatte installiert wird.

Der Mensch bekommt von dieser Schattenkommunikation nichts mehr mit, und das ist der größte Affront für den Hyperindividualisten der Gegenwart: Er ist nicht mehr gemeint. Die Spam-Mails sind die literarische Avantgarde einer Zeit, in der die Maschinen über die Köpfe ihrer Erfinder und Benutzer hinweg miteinander sprechen. Der Mensch wird vom Adressaten zum Passanten. (Tobias Moorstedt/ DER STANDARD RONDO, 21. Februar 2009)