Das "Akustische Manifest"

 

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"Zeit und Raum sind gestern gestorben" , schrieb Filippo Tommaso Marinetti im "Futuristischen Manifest" , einer wirkungsmächtigen Hymne auf das Maschinenzeitalter.

 

 

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Nun liegt dem Standard das "Akustische Manifest" bei (hier links zu sehen, Anm.).


Gestern vor hundert Jahren sind Raum und Zeit gestorben. Das Hinscheiden wurde bisher kaum bemerkt, weil wir noch immer auf die Uhr schauen, wenn wir zu einem Termin müssen, und links und rechts, bevor wir eine Straße überqueren. Aber die meisten von uns gehören ja auch zur Nachhut der Menschheit, zu denen, die in beschaulichem Tempo durch ein normales Leben gehen. Filippo Tommaso Marinetti aber, der am 20.Februar 1909 den Satz "Zeit und Raum sind gestern gestorben" aufschrieb, war Avantgarde. Genauer gesagt: Er war Futurist und damit an vorderster Front unter all den Dada-, Surreal-, Konstruktiv-, Vortiz-, Lettr-, Situation- und anderen -isten, die im 20. Jahrhundert damit beschäftigt waren, allen anderen voraus zu sein.

Zur Avantgarde gehört, dass man das, was man ist, erst wird, indem man sich dazu erklärt. Dazu bedarf es in der Regel eines Manifests. Das "Manifest des Futurismus" von Marinetti erschien am 20. Februar 1909 in Paris. Es war nicht die erste, aber eine der wirkmächtigsten Hymnen auf das Maschinenzeitalter: "Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit." Der Futurismus war eine Bewegung von Männern, die sich am liebsten als Piloten sahen, eingezwängt in enge Flugzeugkanzeln oder Automobilkarosserien. Das Absolute war für sie die "allgegenwärtige Geschwindigkeit" , und sie meinten es gefährlich ernst, wenn sie schrieben: "Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt - den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes."

Zeit und Raum im Ringkampf

Der Begriff des Terrorismus war damals noch nicht so geläufig, sonst stünde er wohl auch in dieser Liste. Die Futuristen besangen die Massen in den Städten, von denen sie sich eine neue Sensibilität erhofften, eine Entwicklung der Sinnesorgane, die mit dem Gewitter der Eindrücke in der Moderne Schritt halten konnte. Literatur wurde nach dem Vorbild der Technik neu gedacht. Umberto Boccioni deutete mit seinen Bildern und Plastiken darauf hin, dass Zeit und Raum vielleicht gar nicht gestorben, sondern in einem gigantischen Ringkampf miteinander befangen waren.

Politisch war das anfangs nicht ganz so festgelegt, wie es bald erscheinen sollte, wirkungsgeschichtlich führt aber an dem Verdikt von Benedetto Croce kein Weg vorbei, dass der Futurismus für den Faschismus mindestens eine "anzapfbare Quelle" war. Zumindest bei Marinetti selbst gibt es aber auch dezidiert (selbst-)ironische spätere Texte wie das "Manifest der futuristischen Küche" (1932).

Was bleibt, ist eine Symptomgeschichte der Moderne, die zuerst bei Künstlern jenes Prinzip der Destruktivität ausbildete, das später in den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts zu millionenfachem Morden bei gleichzeitiger Feier der gleichgerichteten Masse geführt hat. Von einer Sensibilität für die "geheimnisvollen Tore des Unmöglichen" war dabei nicht mehr die Rede.

Neues Manifest

Wie begeht man also den 100. Jahrestag eines Manifests, das heute niemand mehr unterschreiben würde? Mit einem neuen Manifest natürlich. Diese Idee hatte man jedenfalls in Linz, der europäischen Kulturhauptstadt 2009.

Der Musiker Peter Androsch, der für das Konzept Hörstadt verantwortlich ist, steht hinter dem "Akustischen Manifest" , das heute im Pariser Le Figaro (wo auch das Manifest von Marinetti veröffentlicht wurde) erscheint, sowie im Standard und in der FAZ. Für Androsch war der Futurismus eine Bewegung des Lärms, der er eine besser durchdachte "Politisierung des akustischen Raums" entgegenstellen möchte. Sie läuft vor allem auf Ruhezonen hinaus, in denen keine Beschallung mit Kaufhaus- oder anderer Hintergrundmusik auszuhalten ist.

Dieser antifuturistische Kampf für Beschallungsfreiheit steht einer Stadt gut an, die 1977 die von Marinetti verunglimpfte antike Skulptur der Nike von Samothrake rehabilitierte - und zwar als modernes Kunstwerk aus Aluminium, entworfen von Haus-Rucker-Co und weithin sichtbar über der Nibelungenbrücke angebracht.

Diese Bespielung des öffentlichen Raums war seinerzeit ein Skandal. Die Entschallung des öffentlichen Raums in der Linzer Hörstadt, die am 21. November 2009 im weltweiten No Music Day des Musikkonzeptualisten Bill Drummond (Ex-The-KLF) gipfeln soll, ist weniger anstößig, vermutlich aber wichtiger für das Überleben von Zeit und Raum als Lebensdimensionen. (Bert Rebhandl / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20.2.2009)