Wien - Als läge er auf einer Wolke: Der Mann in Schwarz, ein kleiner Punkt am Himmel, mehr als 400 Meter über den Köpfen staunender Passanten, macht auf seinem Seil ein kleines Päuschen. Dann nimmt er den Tanz in luftiger Höhe wieder auf, setzt von einem Turm des World Trade Center zum anderen über. Dort erwarten ihn Polizisten.
Auf diese knappe Dreiviertelstunde am 7. August 1974 läuft in James Marshs Dokumentarfilm Man on Wire alles zu; und danach bricht einiges auseinander. Die Obsession des 1949 geborenen Franzosen Philippe Petit für die New Yorker Wolkenkratzer lässt sich bis in dessen Jugend rückdatieren, da waren die Gebäude noch in Planung.
In "Man on Wire" geht es darum, den materiellen Aspekt eines solchen Hochseilakts zu vermitteln: die körperliche Vorbereitung und die Frage, wie bekommt man etwa das Equipment auf die Plattform?
Der Film arbeitet mit Einzelinterviews vieler Beteiligter und mit Archivmaterial. Drittes Element sind Rekonstruktionen einzelner Schritte, an die sich die Interviewten erinnern. Das fußt auf einer angelsächsischen Dokumentarfilmtradition, die weniger Berührungsängste in Bezug auf nachgestellte Szenen hat. Es hat natürlich auch damit zu tun, dass der damalige Schauplatz des Geschehens seit den Anschlägen des 11. September nicht mehr existiert.
Aber es nimmt auch den Erzählgestus der Gesprächspartner auf: Längst sind die Erinnerungen in eine narrative Form gegossen, die mit Spannungskurven und anderen Kunstgriffen operiert. Petit und seine Verbündeten (beziehungsweise ihre Doubles) infiltrieren somit nach und nach auf der Leinwand noch einmal das World Trade Center (beziehungsweise entsprechende Kulissen) - und zwar in einer Weise, die an Spionagethriller oder Verschwörungsszenarien erinnert. Diesmal gibt es dazu auch die entsprechenden Kinobilder in grobkörnigem Schwarz-Weiß.
Nicht alle Dinge lassen sich in Worte fassen: Noch im Rückblick bewegt der ebenso überwältigende wie schockierende Anblick des Mannes zwischen den Türmen die Beteiligten mehr, als Begriffe wie "magisch" oder "profund" ausdrücken könnten. Allmählich schält sich aus der Schilderung der Abläufe und Anekdoten noch eine zweite, mindestens genau so spannende Erzählung heraus: Diese bleibt allerdings leider nur angerissen. Sie handelt von gruppendynamischen Prozessen, von Spannungen und Misstrauen, von kollektiven Anstrengungen und Alleingängen und einem finalen Bruch. Den kann offenbar auch Jahrzehnte später kein Drahtseil der Welt überbrücken. (Isabella Reicher, DER STANDARD/Printausgabe, 17.02.2009)