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Hirschragout und Wildschweinbraten, das waren im 16. Jahrhundert die Extrawurstsemmeln des Landadels. Verspeist wurden sie mit mehr als nur einer Prise Salz - rund dreimal so viel wie heute wurde verwendet.
Im Bild: Henry VIII., wie ihn der Künstler Hans Holbein sah, 2006 in einer Ausstellung in der Tate Britain in London.

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Hampton Court Palace.

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Montag Fleischtag. Dienstag Fleischtag. Der Rest der Woche aber dann: Fleischtag. Das soll nicht heißen, dass es am Hofe Heinrich des Achten keine kulinarische Abwechslung gegeben hätte. Im Gegenteil. "Kam nicht ein Dutzend verschiedener Fleischgerichte auf den Tisch, murrte man im Palast", sagt Mark Meltonville und nestelt fast ein wenig verlegen an seinem Filzwams herum.

Nicht dass der britische Speisearchäologe und sein Team für das heutige "Tudor Cooking Weekend" Mühen gescheut hätten. Saftig rote Fleischberge türmen sich in den Steinnischen der zwanzig Meter hohen Tudor-Kitchen auf, und trotz der Kühle riecht es nach Blut und frischgehacktem Kräuterwerk. Auch den seltenen Langpfeffer aus Sumatra hat man besorgt, die originalgetreuen Lederpatschen und Hauben schon vor Monaten liebevoll selbst genäht.

Wären da nicht die Häferlgucker-Touristen und Londoner Weekenders, die sich gemeinsam mit den sonderbar bekleideten Köchen durchs Zwielicht der historischen Küche schieben – die rußgeschwärzten Bilder von riesigen Feuerstellen und Tonkrügen für Cider und Ale würden unweigerlich an das Dreh-Set einer frisch wachgeschmatzten Dornröschenszene erinnern. Und natürlich liegt auch das wissenschaftlich aufbereitete Rezeptbuch der Tudor-Chefs sorgfältig aufgeschlagen da.

Aber manches daraus wollen die britischen Speisearchäologen, die soeben geschäftig mit Fleischspießen und Beilen hantieren, denn doch nicht verbraten. Die zarten Schwäne etwa, die noch vor fünf Jahrhunderten vom nahen Themseufer des Hampton Court Palace auf die grobe Eichenholztafel des "Großen Küchensaals" flatterten – solche schräge Gastro-Vögel verbietet man sich anno 2009 aus Gründen der öffentlichen Sympathie.

Auch mit dem einstigen Signaturgericht Pfau Royal, mit gebratenem Reiher, gedünstetem Storch und Delfin in leichter Ingwersauce, hat man es im feinen Südwesten Londons heute nicht mehr so sehr. Besser steht es da schon ums Wild. Wie jede bessere Königsküche hat auch jene von Hampton Court Palace einen weitläufigen Frischhalteraum – in Form kleinerer Mischwäldchen, in denen sich all die haarigen Take-away-Häppchen der Tudor-Cuisine tummeln. Zartes Damwild und Hirsche, Reh, Wildhase, Fasan sowieso.

"Bessere Schlossküche" – dieses Stichwort klingt im Falle der Tudor-Kitchen ein wenig nach Understatement. Denn genau betrachtet handelt es sich um die größte Renaissance-Großküche Europas, zugleich um ein rares Beispiel für gastronomische Logistik, die auch heutige Gastrobetriebe leicht überfordern würde. Denn in Wahrheit muss man sich das lange Zeit verwaiste, seit einigen Jahren Raum für Raum reaktivierte Küchenensemble der alten Richmonder Königsresidenz als eine Art dampfende, zischende, vor allem aber optimierte Kochfabrik vorstellen: Zweihundert Mitarbeiter waren hier rund um die Uhr mit Rösten, Backen, exzentrischer Pudding-Bravour beschäftigt – in der Regel ohne Überblick auf das fertige Resultat. Wie Regisseure müssen die Chefköche die aus allen Ecken angelieferten Speisenteile erst zu komplexen Gerichten orchestriert haben.

All das aufgeteilt auf ein verschachteltes Labyrinth aus Höfen und fünfzig Räumen, in denen sechshundert Höflinge zweimal pro Tag mit mehrgängigen Menüs versorgt wurden – wobei die 1530 angelaufene Koch-Maschinerie über zwei Jahrhunderte zugleich Experimentierstätte für neue kulinarische Zutaten aus Übersee war. Teurer Zucker aus Persien, Safran, exotische Früchte, Aal und Koriander – die Rezeptbücher der Tudors lesen sich wie ein Viktualien-Panoptikum der damaligen Zeit. Eine legendäre Etikette-Bibel, das "Black Book" aus 1472, regelte indessen jedes Detail dieser Logistik. Auch, dass man bei Tudors Brot wie eine Serviette benutzen durfte.

Bloß: "Wild – das war schon ein Prestige-Problem", erzählt Mark Meltonville, der soeben Feuer macht und beim Schleppen der großen Eichenscheite ins Schwitzen kommt. Wohl auch, weil der Feuerstein Macken macht. Zippo und Trockenspiritus gilt nicht, die Rekonstruktion der mittelalterlichen Kochgeräte und -techniken erfolgt bis ins kleinste Detail. Wie Detektive ließen sich die Historiker der Historic Royal Palaces dabei von Gemälden zeitgenössischer Stillleben inspirieren. Vieles ist seither verschwunden: leider auch der Brunnen, aus dessen acht goldenen Löwenköpfen einst Wein sprudelte. Aber zugleich förderte man neben exzentrischen Rezepturen auch eine gute Prise sozialhistorischer Details zutage. Etwa dass mit 5000 Kalorien das Doppelte heutiger Tagesrationen verzündet wurde, und dazu die dreifache Tagesration an Salz. Oder dass nichts verkam und die gesammelten Speisereste an der Palasthintertür an Arme abgegeben wurden. Und dass in der feudalen Oberliga jeder, der sich einen Koch leisten konnte, auch "billiges" Wild hatte. Hirschragout und Wildschweinbraten, das waren im 16. Jahrhundert quasi die Extrawurstsemmeln des kleinsten Landadels.

Dass die Speisearchäologen soeben gekonnt ein Hirschkalb abdecken, fein säuberlich Haare, Knochen, Fleisch trennen, tut dabei nicht viel zur Sache. Ebenso wenig wie die dekorativ aufgetürmten Porreestangen, Kohlkopfpyramiden, Rübengebirge, die sich im Halbdunkel der rauchigen Großküche verlieren. Was jetzt überreich und üppig wirkt, waren einst bestenfalls Basics. Am Königshof des Hampton-Court-Hausherren Henry VIII., dessen Thronbesteigung sich heuer zum 500. Mal jährt, waren die kulinarischen Spielregeln vor allem von Prestigedenken getragen. Und das bedeute, neben maximaler Fülle an Zutaten: Roastbeef bis zum Abwinken. (Robert Haidinger/DER STANDARD, Printausgabe, 13.2.2009)