Politisch ist der Austromarxismus längst tot. Wissenschaftlich hat die zwischen den beiden Weltkriegen entwickelte österreichische Ausprägung sozialistischer Ideologie aber noch einiges zu bieten, wie der Politologe Günther Sandner (siehe Geistesblitz) in dem vom Wissenschaftsfonds geförderten Projekt über die "Politik des Kulturellen" feststellt.

Sandner vergleicht die britischen Cultural Studies der 50er- und 60er-Jahre mit Forschungen, die im Umfeld des Austromarxismus im "roten Wien" betrieben wurde. Dabei stöberte er eine vergessene Wissenschaftstradition auf: die "Austrian Cultural Studies". Seit vielen Jahren boomt die Disziplin der Cultural Studies, die sich - die Grenzen traditioneller Wissenschaftsfächer überschreitend - vor allem der Medien-und Populärkultur widmet. Doch die Kulturwissenschaften, so der meist gebrauchte deutsche Begriff, waren ursprünglich ein politisches Projekt, das aus einer Kombination zwischen außeruniversitärer Forschung und gesellschaftlichem Engagement entstand. Sowohl in Großbritannien mit dem Cultural-Studies-Zentrum Birmingham als auch im Wien der Zwischenkriegszeit beschäftigten sich Wissenschafter mit der Kultur der "Arbeiterklasse" als einem Feld politischer Auseinandersetzung. "Kultur beschränkte sich für sie nicht auf die traditionelle Hochkultur wie Theater, Literatur und Musik. Sie verstanden Kultur als Lebensweise, als Methode, wie schlechter gestellte soziale Schichten ihren Alltag gestalten", erklärt Sandner das breite Begriffsverständnis.

Eine weitere Parallele zwischen Birmingham und Wien: Die Wissenschafter arbeiteten außerhalb etablierter universitärer Strukturen in der Arbeiter- und Erwachsenenbildung, an einer Schnittstelle zwischen akademischer Wissensproduktion und populärer Wissensvermittlung. Beide Gruppen wollten ihre theoretische Arbeit an die reale Lebenssituation der Arbeiter, die ja auch ihre "Forschungsobjekte" waren, rückkoppeln.

"Die Demokratisierung von Wissen sollte dazu führen, dass sich die unteren sozialen Schichten politisch emanzipieren", schildert Günther Sandner den ideologischen Hintergrund. Im österreichischen Fall motivierte dieses Ziel Wissenschafter dazu, sich auch in der Sozialdemokratischen Partei zu engagieren. In Großbritannien galten die Forscher zwar auch als Protagonisten der "Neuen Linken". Sie ordneten sich aber nie der Labour Party unter und blieben parteiunabhängig.

Konkret veranschaulicht Sandner den für die Cultural Studies typischen, breiten Zugang zu Wissenschaft an Otto Neurath, einem der österreichischen Pioniere: 1882 in Wien geboren, studierte Neurath nicht nur Geschichte und Ökonomie, sondern auch Physik und Mathematik. Als Mitglied der Sozialdemokratie engagierte er sich in der Erwachsenenbildung und gründete 1924 das - bis heute existierende - Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, wo er durch leicht verständliche, statistische Grafiken wirtschaftliche Zusammenhänge erklärte. "Neuraths Sohn berichtet von Führungen, die sein Vater sogar noch um Mitternacht für Wiener Straßenbahner abhielt", schildert Sandner: "Wissen ist Macht - das war auch für Neurath die Triebfeder seiner wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Aktivitäten."

Neben Neurath tummelten sich Sozialforscher wie Marie Jahoda (siehe Foto) oder Paul Lazarsfeld, die mit ihrer Studie über die "Arbeitslosen von Marienthal" später weltberühmt wurden, Edgar Zilsel sowie Karl und Charlotte Bühler, die Gründer der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle, im Milieu des Austromarxismus. Als seine wesentliche Leistung aus wissenschaftlicher und kultureller Perspektive beschreibt Sandner "gerade jenen Pluralismus, der in der politischen Lagerbildung der Ersten Republik als ein Moment der Schwäche gesehen werden konnte".

Im offenen und interdisziplinären Wissenschaftsverständnis der Forscher der Zwischenkriegszeit sieht er auch die Aktualität seiner Forschungsarbeit: "Alle sprechen von der wissensbasierten Gesellschaft, in der wir uns zurechtfinden müssen. Wenn aber auch Menschen, die kein Studium absolvieren, den Anschluss - also real meist Arbeit und gehobenen sozialen Status - nicht verpassen sollen, muss man fragen, wie Wissen über akademische Institutionen hinaus vermittelt werden kann." Natürlich könne man nicht mehr von "Klassen" im Sinn der Pioniere der Cultural Studies in Birmingham und Wien sprechen. "Bei dem Versuch, Wissenschaft im Alltag nutzbar zu machen, bieten die frühen Kulturwissenschafter aber interessante Anregungen", fasst Günther Sandner zusammen. (Elke Ziegler/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8./9. 3. 2003)