Fast täglich erscheinen noch immer, das heißt fünfundsechzig bis siebzig Jahre nach der Vernichtung von fast sechs Millionen europäischer Juden, auf Deutsch und Englisch, Französisch und Spanisch, Ungarisch und Polnisch anrührende Geschichten, postume Tagebücher oder Erinnerungen von Überlebenden. Etwas Ungeheuerliches habe sich während des Zweiten Weltkrieges zugetragen, schreibt der deutsch-israelische Historiker Dan Diner, der in seinem letzten Buch ("Gegenläufige Gedächtnisse") neue Fragen über Geltung und andauernde Wirkung des Holocausts, dieses "Zivilisationsbruches", stellt.

Deshalb löste die päpstliche Aufhebung der Exkommunikation eines seit langen Jahren berüchtigten antisemitischen Hetzers und Holocaust-Leugners, des britischen Bischofs Richard Williamson, keineswegs nur unter den Juden, sondern auch in der katholischen Öffentlichkeit und in der Kirchenhierarchie Deutschlands Entsetzen und in breiten Kreisen einen Sturm der Entrüstung aus.

So drückten 25 deutsche Theologieprofessoren öffentlich ihre Bestürzung aus: "Ein Bischof, der die historische Wahrheit verfälscht ... und ein Delikt begeht, das in Deutschland strafrechtlich geahndet wird, darf nicht rehabilitiert, sondern muss in die Schranken gewiesen werden."

Lebt der "von antisemitischen Verschwörungstheorien infizierte Wirrkopf ... in einer Gespensterwelt" (so der deutsche Historiker Gustav Seibt), als er wiederholt, zuletzt zwei Tage vor der Aufhebung der Exkommunikation im schwedischen Fernsehen, behauptet, dass nie ein Jude in einer Gaskammer umgebracht worden ist? Der Regensburger Bischof Gerhard Müller verurteilte scharf die "idiotische und infame" Stellungnahme Williamsons zwei Tage nach dem dramatischen Schritt des Papstes zur Versöhnung gegenüber den vier Bischöfen, die der abtrünnige Erzbischof Lefebvre 1988 illegal geweiht hatte.

Dass der Papst selbst wiederholt in seinen Reden, auch im Mai 2006 im Vernichtungslager Auschwitz, den Antisemitismus und den millionenfachen Mord an den Juden verurteilt hatte, ist bekannt. Hohe kirchliche Würdenträger haben deshalb über eine "gewaltige Panne" im Vatikan gerätselt. Wie dem auch sei, die mutige Forderung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einer eindeutigen Klarstellung des Papstes muss vorbehaltlos begrüßt werden: Durch die Entscheidung des Papstes und des Vatikans sei der Eindruck entstanden, dass es eine Leugnung des Holocausts geben könnte. Dies könne nicht so stehen bleiben, da es um grundsätzliche Fragen des Umgangs mit dem Judentum gehe, so Merkel.

Seit Jahren wird der irrsinnige Holocaust-Leugner Williamson auf den Internetseiten der antisemitischen Wirrköpfe als Kronzeuge zitiert. Seine Wiederaufnahme in die Kirche wird zu Recht von Salomon Korn, dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, als ein "fatales Signal" verurteilt. Bei der "Auschwitz-Lüge" hört jede Toleranz auf, warnt die Frankfurter Allgemeine. Deshalb muss man freilich noch lange nicht das Verhalten der jüdischen Organisationen oder die Militäraktionen des bedrängten Israel immer für richtig, klug und maßvoll halten. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 5.2.2009)