Harte Nachbarschaft: "Detroit war 1960 eine der unattraktivsten und gefährlichsten Städte der USA, aber ich musste dorthin, weil sich in dem Vorort Hazel Park nördlich der 8-Mile Road ein Onkel etabliert hatte, der bereit war, mein ‚Sponsor‘ zu sein. Einen Sponsor musste jeder Immigrant haben ..."

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Er lachte: "A strong guy like you? Work for me one day per week and I'll pay you 50 Dollar."

Die Hand des kleinen uralten Chinesen zitterte, als er mir das Kuvert mit der wöchentlich fälligen "Miete" überreichte. Eine Woche vorher, als ich ihm nur meine Wäsche in seine kleine, im Basement des Hauses gelegene Putzerei brachte, hatte er für mich noch ein ehrliches Lächeln bereit. Diesmal verriet seine Miene Angst.

Wie war es so weit gekommen, dass dieser freundliche Mann sich plötzlich vor mir fürchtete? Ich war im Februar 1960 als 19-jähriger Immigrant nach Detroit gekommen, dem Sitz der damals mächtigen und florierenden US-Automobilindustrie, in dem sich alles um die Herstellung riesiger benzinfressender Straßenkreuzer drehte. Der Zeitpunkt war aber schlecht gewählt, denn in Amerika herrschte damals die ärgste Wirtschaftskrise seit der großen Depression der frühen Dreißigerjahre.

Detroit war 1960 eine der unattraktivsten Städte der USA, aber ich musste dorthin, weil sich in dem Vorort Hazel Park nördlich der 8-Mile Road ein Onkel etabliert hatte, der bereit war, mein "Sponsor" zu sein. Einen Sponsor musste jeder Immigrant haben, denn der Staat wollte für diesen keinerlei Risiko übernehmen. In meinem spezifischen Fall war die Einwanderungsbehörde ohnehin überraschend nachsichtig, denn so kurz nach den Hexenjagden der McCarthy-Ära war immer noch jeder verdächtig, der irgendetwas mit Kommunismus zu tun hatte, und meinen Vater, der Redakteur bei der Volksstimme war, konnte ich nicht verleugnen, obwohl ich mich mit seiner politischen Ausrichtung nicht identifizierte. Das wusste der geheime Vasall der CIA, die österreichische Stapo, deshalb wurde ich wahrscheinlich als harmlos eingestuft.

Drei Wochen nach meiner glorreichen Ankunft landete ich in einem der ärgsten Slums nicht unweit von Downtown, mit nicht mehr als 50 Dollar in der Tasche. Onkel Egon hatte mich mit seiner sehr hübschen Tochter Inge, ihres Zeichens Homecoming Queen der Hazel Park High School, in zärtlicher, aber harmloser Umarmung überrascht. Er befürchtete wohl, dass sein Töchterchen ihre Unschuld mit dem armen Schlucker aus Österreich verlieren könnte, anstatt mit einem reichen College-Boy, der sie dann heiraten würde, wie es damals so üblich war, und verwies mich kurzerhand des Hauses. Die einzige Bleibe, die ich mir leisten konnte, war ein winziges "efficiency apartment" in einer Abbruchbude an der Straßenkreuzung Second Avenue und Prentis Street, dessen "efficiency" aber dürftig war, denn WC und Badezimmer befanden sich am Gang.

Umstände wie diese war ich noch vom Wiener Altbau in der Grünangergasse gewöhnt. Die Miete belief sich auf 12 Dollar pro Woche, wesentlich weniger als die 25 Dollar, die mir Onkel Egon bereits nach Erhalt meines ersten Paychecks für Logis und ein tägliches Lunch-Paket abgeknöpft hatte. Ich hatte nämlich das Glück, im Werkstättenunterricht an der HTL in Wien viele nützliche Fähigkeiten erlernt zu haben, und fand trotz der vorherrschenden Arbeitslosigkeit immer wieder einen Job, sei es auch nur für Tage und für magere 1,25 Dollar pro Stunde. Eigentlich wäre ich für einen Job als Techniker qualifiziert gewesen, aber ich bekam nur Arbeit als Dreher, Fräser, Schweißer, Haftschalenschleifer und, weil aus Wien stammend, Kaffeebohnenröster.

In dem Slum rund um die Wayne State University herrschten entsetzliche Zustände. Es wohnten da fast nur arbeitslose Afroamerikaner (den Begriff gab es damals noch nicht; man sprach von "Colored") und sogenannter "white trash" , armseligste Zuwanderer aus den Südstaaten, die sich trotz ihrer Ungebildetheit immer noch den "Colored" überlegen fühlten. Ich lernte die amerikanische Art der Armut kennen: An verdreckten Straßenkreuzungen und vor Lokalen in meiner Nachbarschaft lungerten Arbeitslose, Alkoholiker und Drogensüchtige herum; Familien besaßen zwar TV-Geräte, ein altes Auto, manchmal sogar ein neues, aber die meisten rannten mit verfaulenden Zähnen und verschleppten Krankheiten herum, weil sie sich keine medizinische Behandlung leisten konnten.

Die Firmen, die diesen Menschen Jobs gaben, waren "non-union," das heißt, sie erlaubten keiner Gewerkschaft Zutritt. Bei den Autoerzeugern General Motors, Ford, Chrysler und American Motors war das anders. Dort waren die Gewerkschaften mächtig, und die (fast nur weißen) Facharbeiter wie Onkel Egon waren Großverdiener, die sich in den Suburbs Villen und Cadillacs anschafften und wie die großen Industriebonzen in den Nobelvororten Grosse Pointe und Birmingham über "socialists" schimpften, die das kapitalistische System ruinieren wollten. Sie schimpften auch über den jungen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, John F. Kennedy, der, wie Obama 48 Jahre später, "Change" versprach.

Detroit war in den Sechzigerjahren die gefährlichste Stadt Amerikas. In meiner Nachbarschaft geschah jeden Tag mindestens ein Mord. Einmal beobachtete ich von meinem ebenerdigen Fenster aus, wie ein Betrunkener aus dem gegenüberliegenden Lokal torkelte und auf die Straße urinierte. Ein anderer folgte ihm, eine Flasche in der Hand. Er ging von hinten auf Ersteren zu und schlug ihm mit derartiger Wucht auf den Schädel, dass sowohl die Flasche als auch der Kopf des Opfers zerbarst. Der Mörder ging dann seelenruhig in das Lokal zurück. Es lagen noch tagelang Glassplitter und Teile der Schädeldecke im eingetrockneten Blut auf dem Gehsteig, obwohl die Leiche weggeräumt worden war. "You must be crazy to come to Detroit on a one-way ticket" , sagte mein Nachbar George zu mir.

Einige Wochen später schlenderte ich an einem Sonntagmorgen die Second Avenue hinunter in Richtung Grand Circus Park, als eine Haustüre aufgerissen wurde und ein Afroamerikaner die paar Stufen herunterstolperte und vor mir liegen blieb, ein großes Küchenmesser im Rücken. Ein anderer Mann, ebenfalls schwarz, kam aus dem Haus heraus, beugte sich über den Sterbenden, gab ihm einen Tritt in die Seite und schrie, "Die, motherfucker!" Es gab damals noch keine Handys, und nirgendwo war eine Telefonzelle zu sehen. Ich machte kehrt und wünschte mir nur eines: dass ich Geld für einen Rückflug hätte.

Ein unwiderstehliches Angebot

Zwei Ereignisse, die mich der Erfüllung des "American Dream" näherbringen sollten, fanden im Mai und Juni 1960 statt. Ich war 1958 österreichischer Jugendmeister im Hammerwerfen geworden, 1959 bei den Juniorenmeisterschaften Zweiter hinter dem legendären Heinrich Thun, und hatte so auch das Diskuswerfen trainiert. Im Mai erfuhr ich, dass in der Universitätsstadt Ann Arbor, Sitz der University of Michigan, ein großes Leichtathletikmeeting stattfinden würde. Am Tag der Veranstaltung fuhr ich mit einem Greyhound-Bus nach Ann Arbor zum berühmten "Ferry Field" , dem Sportplatz, auf dem Jessie Owens 1935 an einem Tag fünf Weltrekorde aufgestellt hatte. Ich musste zu meinem Entsetzen erfahren, dass das Hammerwerfen im Mittelwesten verboten war, weil es dabei in der Vergangenheit zu viele Schwerverletzte gegeben hatte. "But you can participate in the discus", meinte eine Kampfrichterin und deutete in eine Ecke des Sportplatzes, wo Werfer schon aufwärmten.

Ich hatte seit einem Jahr keinen Diskus in der Hand gehalten, aber ein für mich als Linkshänder günstiger Wind ließ mich die Siegerweite werfen. Nach den deprimierenden Erlebnissen der ersten Monate meines Amerika-Daseins endlich ein Lichtblick. Ich stand noch siegestrunken da, als mir jemand von hinten auf die Schulter klopfte. Ich drehte mich um: Vor mir stand Don Canham, der berühmte Coach des Leichtathletikteams der Universität Michigan. Wir hatten ein langes Gespräch über meine Vorbildung und sportlichen Ambitionen, dann verabschiedete er sich: "You'll hear from me, Ernie." Ich hörte von ihm erst drei Monate später, als er mir ein Stipendium anbot. In der Zwischenzeit musste ich mich durchbringen. Da kam es mir zustatten, dass ich in dem Lokal, vor dem der grässliche Mord geschehen war und in dem ich manchmal ein Coke trank, einen gewissen Joe kennen lernte, der Italoamerikaner war und mir ein "unwiderstehliches Angebot" machte.

"Ernie, how much money are you making?" , fragte er mich. Ich antwortete: "1,25 dollar an hour." Er lachte: "A strong guy like you? Work for me one day per week and I'll pay you 50 Dollar." "What do I have to do?" , fragte ich misstrauisch. "Just collect rent from a few slant-eyes and Greeks." Unter Letzteren verstand er rund 50 Besitzer kleiner Putzereien und Restaurants. Ich stimmte sofort zu, denn "rent collector" hörte sich nicht schlecht an, und ich wusste ja nicht, dass Joe ein Capo im berüchtigten Zerrilli-Clan war, der für alle dunklen Geschäfte südlich der 8-Mile Road verantwortlich zeichnete.

Die 50 Dollar pro Woche bedeuteten eine gewaltige Verbesserung meiner Lebensumstände, und dafür legte ich mein Gewissen ein paar Monate lang beiseite. Als Don Canham mir das Stipendium anbot, entließ mich Joe großzügig aus seinen Diensten. Ich hörte von ihm nur noch einmal, als ich 1964 in Philadelphia bei einem Leichtathletikmeeting das Diskuswerfen mit einem neuen österreichischen Rekord gewonnen und mich für die Olympiade qualifiziert hatte. Er schickte mir ein Telegramm und wünschte mir alles Gute. Einige Jahre später starb er in einem Schusswechsel mit Ganoven der Teamster-Gewerkschaft, deren Boss Jimmy Hoffa sich mit dem Paten Anthony Zerilli angelegt hatte. Als Rache fertigten Zerillis Männer 1975 Jimmy Hoffa "cement boots" an und versenkten ihn im Detroit River. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon Professor an der University of Virginia im idyllischen Charlottesville.

Nach Detroit bin ich nie wieder gereist.

(Ernst Soudek, ALBUM – DER STANDARD/Printausgabe, 31.01/01.02.2008)