Michel Piccoli im Bühnenschnee von "Oostende": ein Grantler namens Lear.

 

 

Foto: Schroeder

Ein Theaterauftritt des nun 83-jährigen Michel Piccoli ist an sich schon ein Ereignis. Wenn Piccoli sich erstmals an einen Theatertext von Thomas Bernhard heranwagt, schärft das noch einmal die Erwartungshaltung - und trägt zum Ereignischarakter der Produktion bei. In Paris spielt der Schauspieler Piccoli den Fantasiedarsteller namens Minetti in der Inszenierung von André Engel: derzeit im Théâtre de la Colline und dann während einer monatelangen Tournee in ganz Frankreich.

Das Minetti-Projekt entstand, weil André Engel vor drei Jahren Michel Piccoli in Shakespeares König Lear in Szene setzte und die beiden Herren Lust hatten, wieder miteinander zu arbeiten. Da der Bernhard'sche Titelheld "Minetti" am Silvesterabend in einer Hotelhalle erzählt, er warte auf den Schauspieldirektor aus Flensburg, um endlich wieder "Lear" zu spielen, fanden Engel und Piccoli via Shakespeare zu Thomas Bernhard.

Bereits im Lear zeigte Piccoli eine gewisse Nonchalance im Umgang mit dem Text, die er in Sachen Bernhard eher noch betont. Der Pariser "Minetti" ist ein gebrochener, menschlicher und sentimentaler Schauspieler, der seine Textschwierigkeiten aber mit Grandezza überspielt, als handelte es sich um die Schwächezeichen seiner Theaterfigur. "Minetti" lebt seit 30 Jahren in einer Form der inneren Emigration - und verweigert sich der klassischen Literatur. Er bezahlt auch den psychischen Preis für den Verzicht auf das Publikum, was ein politisch bewusster Regisseur auch als Auftrittsverbot andeuten könnte.

Müde unterm Schnee

Im Gegensatz zum wirklichen Schauspieler Bernhard Minetti, der die Rolle 1976 in Stuttgart unter Claus Peymann erstmals spielte, interpretiert Piccoli nicht dessen ungebrochene Kraft, mit der er das restliche Theaterpersonal (und das beschimpfte Publikum) tyrannisiert. Piccoli ist ein charmanter, müder "Minetti", der seinen letzten großen Auftritt in einer Hotelhalle ins Szene setzt. In den Momenten der Textbeherrschung ist Piccoli ein großartiger, nuancierter, aber sentimentaler Darsteller, der auch die Musikalität der Bernhard'schen Sprache vermittelt.

Die Sentimentalität, wie auch Claus Peymann nach der Premiere hervorhob, entspricht der Figur nicht. Sie ist im Grunde genommen eine Fehlinterpretation des Regisseurs Engel. Sie ist in sich ein Widerspruch, weil André Engel den Epilog, die Selbstmord-Szene des "Minetti", einfach weglässt. Nach dem vergeblichen Warten auf den Schauspieldirektor geht "Minettis" letzter Realitätsbezug verloren. Er wird seine Lieblingsrolle, den Lear, nie mehr spielen können.

Im Text sitzt er im Freien auf einer Bank, schluckt Pillen, setzt sich die für ihn als Lear von James Ensor persönlich gemalte Maske auf und wird allmählich von Schnee bedeckt. Ein hochdramatischer, für Engel zu sentimentaler Schluss - den Engel "einfach nicht sehen" wollte. Das Stück steuert auf ein Ereignis zu, das der Regisseur dem Publikum gleichsam vorenthält. Aber trotzdem wird Michel Piccolis markante Darstellung im Gedächtnis haften bleiben. (Olga Grimm-Weissert aus Paris / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23.1.2009)