Allein gegen die Macht in Blau: Christine Cooper (Angelina Jolie) will in Clint Eastwoods "Der fremde  Sohn"  die Suche nach ihrem verschwundenen Kind nicht aufgeben.

 

 

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In der überlebensgroßen Hauptrolle rackert Angelina Jolie.


Wien - Der demnächst 79-jährige US-Schauspieler und Regisseur Clint Eastwood scheint in den letzten Jahren an Tempo und Output nur noch zuzulegen: Nach den von vornherein als Double Feature konzipierten (Nach-)Kriegsdramen Flags of Our Fathers und Letters of Iwo Jima, die beide 2006 das Licht der Leinwand erblickten, stellte er auch 2008 zwei neue Filme vor: Der eine, Gran Torino, in dem Eastwood auch als Darsteller im Einsatz ist, wird uns Ende Februar erreichen, der andere kommt jetzt in die heimischen Kinos.

Der fremde Sohn / Changeling spielt in den 1920er-Jahren in Los Angeles. Christine Cooper (Angelina Jolie) zieht dort ihren Sohn alleine groß. Eines Samstags muss sie kurzfristig für eine Kollegin einspringen. Walter bleibt allein daheim. Abends findet Christine ein leeres Haus vor. Sie sucht Walter vergeblich, erst 24 Stunden später ist auch die Polizei bereit, eine Vermisstenanzeige aufzunehmen und ihrerseits Nachforschungen anzustellen, die allerdings ohne Ergebnis bleiben.

Dann, Monate später, ereilt Christine an ihrer Arbeitsstelle ein Anruf, der nicht nur sie, sondern auch ihre mitfühlenden Kolleginnen erschüttert: Man habe einen Jungen aufgegriffen, und es handle sich um Walter.

Christine wird in der Folge zum Bahnhof bestellt. Der Polizeichef - Chief James E. Davis - ist zur Stelle, die Presse ist vor Ort. Der Zug fährt ein, ein Kind steigt aus. Der ermittelnde Captain führt Christine und ihren Jungen zusammen, und dann geschieht das Unglaubliche und zudem gänzlich Unerwünschte: Anstatt den Reportern und Fotografen eine emotionale Wiedersehensszene zu liefern, in Tränen auszubrechen, ihr Kind in die Arme zu nehmen, reagiert Christine merkwürdig kühl. "Das ist nicht mein Sohn." , sagt sie.

Trotzdem lässt sie sich darauf ein, den Jungen mitzunehmen, sich wieder an ihn zu "gewöhnen" . Aber als zu Christines unfassbarer Gewissheit auch handfeste Indizien kommen - dieser Walter ist beispielsweise kleiner -, beginnt Christine darauf zu bestehen, dass dieser Fall noch nicht abgeschlossen sei. Und die Freunde und Helfer zeigen sich plötzlich von ihrer groben Seite.

Der (historisch verbürgte) Stoff, den Eastwood hier verarbeitet, ähnelt jenen, aus denen sonst James Ellroy schöpft. Der Schriftsteller macht aus dem abgründigeren Teil der Vergangenheit des Polizeidepartments von Los Angeles harte Thriller wie L.A. Confidential oder Die Schwarze Dahlie. Eastwood und der fürs Drehbuch verantwortliche J. Michael Straczynski - eigentlich ein Autor von Superheldengeschichten und Science-Fiction - tendieren hingegen in Richtung Melodram.

Störfaktor: Star

Nicht umsonst hat man Übermutter Angelina Jolie für die Hauptrolle engagiert. An ihrer Seite: Charakterdarsteller, viele davon mit reichlich Fernseh- oder Bühnencredits wie William Donovan, der den maliziösen Captain spielt, Michael Kelly, Colm Feore, Amy Ryan oder Jason Butler Harner. Wahrscheinlich hätte es dem Film gut getan, überhaupt auf Stars wie Jolie oder den herzhaft outrierenden John Malkovich zu verzichten, deren überlebensgroße Persona sich nur bedingt in die Erzählung fügt. Stattdessen ziehen Idiosynkrasien und Äußerlichkeiten die Aufmerksamkeit auf sich. Da kann auch darstellerisches Vermögen, über das Jolie zweifellos verfügt, nichts dran ändern.

Auf einen Einstieg mit irritierend perfekter Mutter-Kind-Symbiose folgt - und das ist der überzeugendste Abschnitt - eine langsame Verlagerung vom privaten Drama auf die größeren Zusammenhänge und Interessen, die es infiltrieren. Der Ort der Handlung wird als "corporate city" inszeniert: Der Eigner der Telefongesellschaft, für die Christine arbeitet, ist auch Betreiber der Straßenbahn, mit der sie zu dieser Arbeit fährt.

Im letzten Drittel beginnt die Erzählung allerdings auszufransen; ein potenzielles Filmende folgt aufs nächste. Alles wird bis zum Letzten ausbuchstabiert. Der Ablauf wird schematisch. Verglichen mit aufgeblasenen dramatischen Star-Vehikeln, die sich jetzt immer nachdrücklicher um Oscars bewerben, hat Eastwoods Changeling aber noch genug Interessantes zu bieten. (Isabella Reicher / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22.1.2009)