Seit nunmehr 19 Jahren schieben Amerika und Europa eine strategisch entscheidende Frage vor sich her, die niemals wirklich beantwortet wurde: Welche Rolle soll das postsowjetische Russland global und in der neuen europäischen Staatenordnung nach 1989/90 eigentlich spielen? Schwieriger Partner oder strategischer Gegner?

Folgt man den meisten Osteuropäern, dem Vereinigten Königreich und der Regierung Bush, so heißt die Antwort "strategischer Gegner". Die meisten Westeuropäer hingegen bevorzugen die Alternative "schwieriger Partner." Diese sich scheinbar ausschließenden Alternativen haben eines gemein: Beide sind nicht zu Ende gedacht. Begreift man Russland als strategischen Gegner, wofür die Restauration großrussischer Machtpolitik unter Putin zu Lasten der Herrschaft des Rechts in der Innen- und Außenpolitik durchaus spricht, dann muss der Westen seine Agenda grundsätzlich ändern. Russland ist zwar keine Supermacht mehr, wie in den Zeiten der Sowjetunion, wohl aber, zumindest in Europa und Asien, militärisch immer noch eine Großmacht.

Um die zahlreichen regionalen Konflikte - Iran, Naher Osten, Afghanistan/Pakistan, Zentralasien, Nordkorea - und globalen Herausforderungen - Klimaschutz, Abrüstung, Rüstungskontrolle, nukleare Antiproliferation, Energiesicherheit - zu lösen, bedarf es der Zusammenarbeit mit Russland. Eine strategische Konfrontation mit Moskau würde diese Agenda aber in Frage stellen oder zumindest ihre Umsetzung erheblich erschweren. Und so stellt sich die schlichte Frage: Ist die russische Bedrohung so schwerwiegend, dass es einer solchen strategischen Umorientierung des Westens bedarf? Ich meine nein. Russland ist keine Supermacht mehr, Putins Großmachtanspruch und -politik stehen strukturell auf sehr dünnen Beinen.

Demografisch bewegt sich Russland auf einen dramatischen Einbruch zu; wirtschaftlich und sozial bleibt es rückständig; seine Infrastruktur ist unterentwickelt; ebenso wie seine Investitionen in Bildung und Ausbildung. Wirtschaftlich lebt es überwiegend von Energie- und Rohstoffexporten und ist in seinen Modernisierungsanstrengungen weitgehend vom Westen und hier vor allem von Europa abhängig. Russland wird auf Grund seiner geopolitischen Lage und seines Potenzials aber auf Dauer in Europa und Asien ein nicht zu übergehender strategischer Faktor bleiben. Das Land deshalb in eine strategische Partnerschaft einzubinden, liegt im Interesse des Westens.

Die russische Regierung wartete vor einigen Monaten mit dem Vorschlag auf, über eine neue europäische Ordnung im Rahmen der OSZE zu verhandeln. Oberstes strategisches Ziel ist für Moskau dabei die Schwächung oder gar Zurückdrängung der Nato und die Wiederherstellung seiner osteuropäischen und zentralasiatischen Einflusszone. Für den Westen sind diese Ziele inakzeptabel, er sollte aber das russische Begehren nach neuen Verhandlungen über ein europäisches Sicherheitssystem nicht ausschlagen, sondern als Chance begreifen, die zentrale offene Frage nach der Rolle Russlands in Europa endlich zu beantworten.

Dabei wird die Nato die zentrale Rolle spielen müssen. Der denkbare Trade Off könnte darin bestehen, dass die bisherigen Grundsätze und Institutionen der postsowjetischen europäischen Staatenordnung unter Einschluss der Nato von Moskau akzeptiert werden und Russland dafür innerhalb der Nato eine wesentlich aufgewertete Rolle erhält. Die gemeinsame westliche Antwort auf die russische Herausforderung erlaubt keinen Aufschub. (© Project Syndicate, 2009/DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.1.2009)