Emmerich Tálos: "Die dominante strategische Option der Gewerkschaften ist Verhandeln, nicht Streiken. Der weitgehende Verzicht auf den Einsatz von Kampfmitteln reduziert die Schlagkraft".

Foto: rwh

Schon während der letzten Großen Koalition gewann die Sozialpartnerschaft wieder an Bedeutung. "Der Regierung, der ja selbst nicht viel eingefallen ist, hat dieses Zutun auch unbedingt notwendig gehabt", sagt Emmerich Tálos, Politiologe, im Gespräch mit derStandard.at. In der Sozialpartnerschaft sieht er aber auch Nachteile: Sie "hat dazu geführt, dass bestimmte Interessen wenig oder kaum berücksichtigt werden", so Tálos. Über den Sinn des Kammernsystems, die "reduzierte Schlagkraft" der Gewerkschaft und über Sozialminister Rudolf Hundstorfer sprach er mit Katrin Burgstaller.

derStandard.at: Herr Tálos, das "Profil" schreibt: "In der österreichischen Realverfassung rangiert ein Sozialpartnerchef über einem Minister. Hundstorfers Jobwechsel vom ÖGB-Chef ins Ministeramt ist eigentlich ein freiwilliger Abstieg." Sehen Sie das auch so?

Tálos: Ich halte das nicht für einen Abstieg. Das ist einfach eine andere Funktion. An dieser Rochade sehe ich eher, dass die Sozialpartnerschaft nicht nur eine politische, sondern auch eine institutionelle Aufwertung erfahren hat. Eine politische Aufwertung konnten wir schon für die Vorgängerregierung SPÖ-ÖVP feststellen. Die Verbände wurden ungleich mehr als unter Schwarz-Blau in die politische Mitgestaltung eingebunden. Nunmehr wurden sie auch institutionell aufgewertet.

derStandard.at: Würden Sie von einem Revival der Sozialpartnerschaft sprechen?

Tálos: In den Jahren 2007 bis 2008 ist es zu einem Revival gekommen. Die Sozialpartnerverbände haben in vielen Bereichen Kompromisse gefunden. Und die Regierung, der ja selbst nicht viel eingefallen ist, hat dieses sozialpartnerschaftliche Zutun auch unbedingt notwendig gehabt. Revival heißt aber nicht eine Wiederkehr der Hochblüte der Sozialpartnerschaft der 1960er und 1970er Jahren.

derStandard.at: Warum kann es nicht mehr zu einer Hochblüte der Sozialpartnerschaft kommen?

Tálos: Der Aktivitätsspielraum ist im Vergleich zu damals merkbar eingeengt, insbesondere auf die klassischen Verbändethemen Arbeitsrecht, Soziales, Arbeitsmarkt.

derStandard.at: Auch durch die Internationalisierung scheint das begründet zu sein...

Tálos: Das ist richtig. Wir können schon für die 1990er Jahre feststellen, dass es mehrere Gründe gab, die die Möglichkeiten sozialpartnerschaftlicher Mitgestaltung beträchtlich eingeschränkt haben. Eine Reihe von Materien, wofür die Sozialpartner früher die inhaltliche Substanz geliefert haben, werden nunmehr auf der Gemeinschaftsebene entschieden. Die österreichische Regierung hat sich verpflichtet, bestimmte Kriterien der Wirtschafts- und Währungsunion einzuhalten: Sparpolitik wurde angesagt und realisiert. Die Spannungen zwischen den Verbänden haben beträchtlich zugenommen. Wirtschaftliche Probleme und die zunehmende Arbeitslosigkeit haben die Gewerkschaften geschwächt.

derStandard.at: Glauben Sie, dass die Wirtschaftskrise den Zusammenhalt unter den Sozialpartnern wieder stärkt?

Tálos: Sozialpartnerschaft war nie nur ein Krisenlösungsinstrument. Es ist ein dauerhaftes Muster geworden, das in Zeiten funktioniert hat, in denen es wirtschaftlich schwieriger war, aber vor allem auch in Zeiten, in denen es wirtschaftlich sehr gut ging. In wirtschaftlich guten Zeiten ist der Verteilungsspielraum größer, die Konflikte hatten ein geringeres Ausmaß . Heute steht das gemeinsame Bemühen um eine Krisenlösungsstrategie weit oben auf der Agenda der Verbändepolitik.

derStandard.at: Glauben Sie, dass die Gewerkschaft durch ihre Einbindung in die Sozialpartnerschaft an Schlagkraft einbüßt?

Tálos: Die Gewerkschaftsbewegung der Zweiten Republik wollte und will bewusst Politik in einem breiteren Rahmen mitgestalten, also nicht nur Lohnpolitik, sondern alle für die ArbeitnehmerInnenschaft wichtigen Themen. Dazu zählt insbesondere die Sozial- und Wirtschaftspolitik. Der Gewerkschaftsbund berücksichtigt dabei gesamtwirtschaftliche Ziele, die über die genuinen Interessen der ArbeitnehmerInnen hinausgehen. Die dominante strategische Option der Gewerkschaften ist Verhandeln, nicht Streiken. Der weitgehende Verzicht auf den Einsatz von Kampfmitteln reduziert die Schlagkraft.

derStandard.at: Glauben Sie, dass diese Entscheidung, nicht nur die genuinen Interessen der ArbeitnehmerInnen zu vertreten, sinnvoll ist, etwa wenn es um den Kampf der sozialen Gerechtigkeit geht?

Tálos: Das ist eine Frage des Blickwinkels. Die österreichische Gewerkschaftsbewegung hat durch die Einbindung in die Sozialpartnerschaft sehr viel zum Ausbau der Sozialpolitik, zur Gestaltung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik beigetragen und damit die Lebens- und Arbeitsbedingungen der unselbständig Beschäftigten wesentlich positiv mitgestaltet. Allerdings konnten auch die Unternehmerorganisationen über den Weg der sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen ihre Ziele ganz anders realisieren als in Italien, wo sie damit rechnen müssen, dass die Gewerkschaften ihre Interessen kämpferischer vertreten.

Aus demokratiepolitischer Sicht ist konstatierbar: Sozialpartnerschaft hat mit Demokratie sehr wenig zu tun. Es sind Entscheidungsprozesse, die hinter dem "Vorhang" stattfinden. Das ist Eliteherrschaft. Das Muster der Sozialpartnerschaft hat dazu geführt, dass bestimmte Interessen wenig oder kaum berücksichtigt wurden. Das ist exemplarisch zu sehen an der Schieflage der Einkommensverteilung oder an den Benachteiligungen von Frauen bei Einkommen und sozialer Sicherung. Die Politik der Gewerkschaftsbewegung war durchwegs dominant an den Erwerbsbiografien von Männern ausgerichtet.

derStandard.at: Unter Schwarz-Blau wurde die paritätische Einbindung der Sozialpartnerverbände außer Kraft gesetzt. Damals hat die Gewerkschaft auch mehr Streiks organisiert und viele ArbeitnehmerInnen mobilisiert. Deutet das auf die Wandlungsfähigkeit der Gewerkschaft hin?

Tálos: Das hängt von der politischen Kräftekonstellation ab. Wenn die Sozialdemokratie in Opposition ist, dann ist das Kritikpotenzial der ArbeitnehmerInnenvertreterInnen ein ungleich größeres als wenn sie in der Regierung ist. Zugleich kann die Gewerkschaft ihren Einfluss besser geltend machen, wenn die Sozialdemokratie in der Regierung vertreten ist – was die letzten Jahre im Vergleich mit der schwarz-blauen Regierungszeit deutlich zeigen.

derStandard.at: Zu den Kammern. Im Gegensatz zur Gewerkschaft ist für die Kammern eine Pflichtmitgliedschaft vorgeschrieben. Wie ist das politisch legitimiert?

Tálos: 1849 wurden die ersten Kammern, die Handels- und Gewerbekammern eingeführt. Für ArbeitnehmerInnen gilt eine gesetzlich geregelte Interessenvertretung, die Arbeiterkammer, erst seit 1920. Das ist eine spezifische Form der Interessensvertretung, die Rechte und Pflichten vorsieht. In den 1990er Jahren gab es eine Debatte über die Pflichtmitgliedschaft. Die damals den Kammern verordnete Abstimmung ist für diese Organisationen hoch positiv ausgegangen. Der ÖGB hätte heute nie die finanziellen Möglichkeiten, Beratungsdienste und Expertisen wie die Arbeiterkammer zu leisten. Heute wird das Kammersystem kaum noch in Frage gestellt. Von der letzten SPÖ-ÖVP-Regierung wurde zwar nicht die Sozialpartnerschaft verfassungsmäßig verankert, sehr wohl allerdings das Kammernsystem im Rahmen einer Verfassungsergänzung betreffend die "Sonstige Selbstverwaltung".

derStandard.at: Die Interessensvertretungen sind in Österreich quasi monopolisiert. Ist das positiv oder negativ?

Tálos: Für die Gewerkschaftsbewegung ist es ein Vorteil, praktisch eine Monopolstellung zu haben: Das System der Sozialpartnerschaft ist nur durch eine solche Monopolstellungen realisierbar. Für die Durchsetzung von Interessen ist die Monopolstellung ein Vorteil. Andererseits: Als derart integrierter Faktor wird der ÖGB bestimmte Interessen nicht durchsetzen und bestimmte Fragen erst gar nicht stellen. (Katrin Burgstaller, 15. Jänner 2009)