Beim EU-Beitritt Tschechiens im Mai 2004 wurde auf der Thayabrücke mehrere Tage lang gemeinsam gefrühstückt.

Foto: Herbert Bednarik

Bei der Grenzöffnung 1989 war die im Kalten Krieg skelettierte Brücke nur in waghalsigen Klettertouren zu passieren. 

Foto: Horst Weitschacher/Historisches Fotoarchiv der Stadtgemeinde Hardegg

Sommerfrischler in der Thaya, vermutlich in der Zwischenkriegszeit.

Foto: Historisches Fotoarchiv der Stadtgemeinde Hardegg

Tschechische Schüler und Kindergartenkinder beim gemeinsamen Ausflug in Starý Petřín.

Foto: Historisches Fotoarchiv der Stadtgemeinde Hardegg

Junge Österreicher vor dem Boxkampf, einer zur besseren Unterscheidbarkeit rußgeschwärzt.

Foto: Historisches Fotoarchiv der Stadtgemeinde Hardegg

Dank eines Fotoarchivs, das durch private Initiative angelegt wurde, haben Dörfer an der österreichisch-tschechischen Grenze ihre gemeinsame Vergangenheit wiederentdeckt. Neben rund 3500 Bildern dokumentieren inzwischen auch Videoaufnahmen von Schulkindern beiderseits der Grenze persönliche Erinnerungen an das Leben im Dorf.

Hardegg/Starý Petřín – Wenn Herbert Bednarik durch die tausenden Schwarz-Weiß-Fotos auf seiner Festplatte klickt, kehrt ein Motiv immer wieder: die Thayatalbrücke, die das niederösterreichische Hardegg mit dem tschechischen Čičov verbindet. Eine Aufnahme aus der Zwischenkriegszeit zeigt Sommerfrischler aus Wien: Die drei Männer im Anzug lachen neben zwei Ochsen und einer heimischen Bäuerin in die Kamera. Auf einem anderen Bild entfernen tschechische Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg die Bodenbretter der Brücke. Was bleibt, ist ein unpassierbares Metallskelett.

Bis zum Fall des Eisernen Vorhanges ist der Brückenaufgang außerdem verbarrikadiert: "Stopp Staatsgrenze" warnt dort ein Schild. Ende 1989 öffnen sich die Grenzen wieder. Ein Foto zeigt Leute, die sich über das Brückengerüst vorsichtig von einem Ufer zum anderen hangeln. Noch sind die Bodenbretter nicht wieder an ihrem Platz. Auf den neueren Bildern spazieren Österreicher und Tschechen unbekümmert über eine intakte Brücke.

Die Brücke ist der Rahmen der Geschichte, die diese Bilder erzählen: Von einer Grenzregion im östlichen Zipfel des Waldviertels, rund um die Stadtgemeinde Hard-egg und die tschechische Gemeinde Starý Petřín. Herbert Bednarik versucht, diese Geschichte zu dokumentieren. Rund 3500 Bilder hat der Fotograf bis dato zusammengetragen und archiviert – rund 100 Jahre Dorfleben auf Glasplatten, Dias und Fotografien, die er mühevoll restauriert und digitalisiert hat. Auch die Bildbeschaffung war nicht unbedingt einfach: "Die Leute geben ihre Fotos nicht gerne aus der Hand. Die Skepsis war anfangs groß. Mittlerweile wissen sie aber, dass sie die Bilder unversehrt wiederbekommen."

Einblicke in das grenzübergreifende Fotoarchiv gibt ein Bild- und Textband, den Rosi Grieder-Bednarik, Herbert Bednariks Schwester, herausgegeben hat: "Leben im Dorf – Dorf(an)sichten". Gestützt auf die historischen Aufnahmen geht die Grafikerin mithilfe von Gemeinde-, Schul- und Pfarrchroniken darin der Geschichte ihrer Wahlheimat auf die Spur – ein Unterfangen, das nicht überall Begeisterung ausgelöst hat, denn Vergangenheitsbewältigung konnte mitunter so aussehen: "In einer Chronik waren die Seiten der Jahre 1938 bis 1945 teilweise geschwärzt", erzählt Grieder-Bednarik.

Sie ist 1976 nach Pleissing gezogen, an den "äußersten Rand des Landes", wie sie sagt. Ihr Bruder pendelt seit den 1980ern zwischen Wien und Pleissing, einer von neun Katastralgemeinden der Stadgemeinde Hardegg. In Hardegg, der kleinsten Stadt Österreichs, hat das Leben schon lange nicht mehr viel Städtisches an sich. Der „äußerste Rand" wurde durch den Eisernen Vorhang zum toten Winkel: Die Grenze war absolut dicht. So dicht, dass die Kinder in der Dorfschule sich oft wunderten, wie "die da drüben" wohl aussähen, erinnert sich Herbert Bednarik. So, als redeten sie von Leuten auf einem anderen Kontinent und nicht am gegenüberliegenden Flussufer.

Seit heuer ist Tschechien ein Schengenland, Grenzen spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. "Man hat das Gefühl, das Land geht einfach weiter: Die Landschaft ist gleich, die Weingärten – nur die Straßenschilder sind anders. Bis die Grenzen auch in den Köpfen verschwunden sind, wird es aber wohl noch eine Generation dauern", sagt Rosi Grieder-Bednarik.

Rund ein Fünftel der Aufnahmen aus dem Bildarchiv zeigt das Leben jenseits der Thaya: die tschechischen Nachbarn bei der Erntearbeit, bei Eishockeyspielen, beim Musizieren – ein Alltag, der sich kaum von dem am anderen Flussufer unterscheidet. Genauso wenig wie die Probleme, mit denen man hüben wie drüben zu kämpfen hat. Auch heute: Die Gemeinden werden immer kleiner – in den neun Katastralgemeinden der Stadtgemeinde Hardegg wohnen gerade einmal 1500 Menschen. Das Durchschnittsalter der Bewohner steigt. Die Nahversorgung wird schwieriger – die meisten Greißler haben vor Jahren zugesperrt. In der Stadt Hardegg gibt es seit 2007 nur noch zwei Schulkinder und einen Bäcker. "Wie es früher war", weiß bald niemand mehr.

Um Jung und Alt miteinander ins Gespräch zu bringen und die Erinnerungen an das "Leben von damals" wachzuhalten, haben die Bednariks ein grenzübergreifendes Schulprojekt initiiert, das zum EU-Beitritt Tschechiens 2004 seinen Abschluss fand: "Dorf(er)leben" – quasi ein Vorgänger zum Bildband. Rund 100 österreichische und tschechische Volksschüler sprachen mit den älteren Bewohnern ihrer Heimatgemeinden darüber, wie diese den Dorfalltag erlebt hatten. Die Bilder aus dem Archiv der Bednariks hatten viele Fragen aufgeworfen. Innerhalb von zwei Schuljahren entstand so ein Oral-History-Archiv mit 49 von den Kindern gefilmten Videoaufnahmen – 49 Einsichten und Sichtweisen über das frühere „Leben im Dorf", diesseits wie jenseits der Thaya.

Das Projekt und in weiterer Folge der Bildband "Leben im Dorf" wurden sowohl in Österreich als auch in Tschechien mehrmals vorgestellt und ausgezeichnet. Jüngst erhielten die Bednariks dafür den „Niederösterreichischen Anerkennungspreis für Erwachsenenbildung 2008".

Das Engagement der Geschwister ist damit aber nicht zu Ende: An einer tschechischen Übersetzung des Bildbandes wird gearbeitet, weitere Ausstellungen sind jederzeit möglich. Das Potenzial des Fotoarchivs ist noch längst nicht ausgeschöpft. (Nicole Bojar/DER STANDARD, Printausgabe, 13.1.2009)