Der Philosoph, Gruppendynamiker und Berater Gerhard Schwarz sieht die Ursachen der aktuellen Finanzkrise in einem Mangel an Regulierung. Die Politik habe nicht verstanden, wo sie bei den waghalsigen Finanztransaktionen mit Regeln ansetzen muss.

Foto: ORF, "kreuz & quer"

Nachgefragt hat Gabriele Kolar.

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STANDARD: Wie beurteilen Sie als Philosoph die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise?

Schwarz: Der Hauptparameter ist die Theorie des Aristoteles, der gesagt hat, dass das Geld drei Dimensionen hat: als Maßstab für den Tausch, als Kapital und als Eigentum. Zwischen diesen drei Dimensionen gibt es jeweils einen Widerspruch. Aristoteles hat das Zinsverbot durchgesetzt, weil er sagt, wenn Geld nur vom Gelde kommt, dann geht das ins Unendliche. Darum, sagt er, sind Finanzmärkte im Unterschied zu den Realmärkten crashanfällig. Immer dann, wenn die Finanzmärkte die Realmärkte dominieren, kommt es zum Crash.

STANDARD:  War der Crash also vorhersehbar?

Schwarz: Einige haben ihn schon vor 20 Jahren vorausgesehen, als das Verhältnis Finanzmarktumsätze zu realen Umsätzen auf der Welt 85:15 Prozent war. Und dann sind immer mehr gekommen, die gesagt haben, bei 90 bis 95 Prozent bricht die Blase zusammen. Dass es jetzt gekommen ist, da war die Immobilienkrise nur der Anlass. Man hat schon angenommen, dass es beim Platzen der IT-Blase passiert, aber da ist es noch nicht geschehen.

STANDARD: Hätte man den Crash trotzdem vermeiden können?

Schwarz: Noch eine These des Aristoteles: Er sagt, Kapital sei die Leistungsgerechtigkeit und Geld als Eigentum die Bedürfnisgerechtigkeit. Die beiden, Bedürfnis und Leistung, stehen in Konflikt. Wir brauchen eine dritte, übergeordnete, die sogenannte Gesetzesgerechtigkeit. Aristoteles sagte, immer dann, wenn nicht die Politik die Ökonomie dominiert, sondern umgekehrt, dann kommt es zum Crash. Denn dann dominiert die Leistungsgerechtigkeit über die Bedürfnisgerechtigkeit. Das ist ja die These, die Marx dann aufgegriffen hat. Marx sagte, am Kapitalismus ist nicht die freie Marktwirtschaft schlecht, sondern wenn Lobbys die Politik dominieren.

STANDARD: Ist dieser Crash in der Größe mit 1929 zu vergleichen?

Schwarz: Ich glaube nicht, dass dieser Crash so groß ist, wie der der 30er-Jahre. Objektiv nicht, und er wird auch nicht so lange dauern, weil die Politik jetzt besser gerüstet ist. Damals ist die Politik machtlos daneben gestanden. Marx hat gesagt, dass der Kapitalismus crashanfällig ist und er weiterentwickelt werden muss, indem die Politik die Ökonomie reguliert. Damit meint er den Sozialismus, der ein Kapitalismus ist, bei dem die Ökonomie von der Politik geregelt wird. Das, was passiert ist, ist ein Fehler der Politik gewesen. Wenn man ein Auto hat, das 300 Stundenkilometer fährt und keine Bremsen hat, bekommt man keinen TÜV mehr. Aber sie kriegen eine Zulassung als Investmentbank, wenn sie waghalsige Transaktionen machen. Es muss genauso einen TÜV für Finanztransaktionen geben, wie es einen TÜV für Autos gibt. Das ist eine Sache der Politik.

STANDARD: Die versagt hat ...

Schwarz: Die Politik kann die Ökonomie nur ändern, wenn sie sie versteht. Die politischen Parteien haben noch nicht mitgekriegt, was Ursache der Krise war und was reguliert gehört. Banken erfinden ja ständig neue Produkte, von denen die Politik noch nie etwas gehört hat. Jetzt wird mit der Gießkanne Geld ausgegeben, aber die Politik rettet jetzt auch. Das ist das Schöne, dass es die EU gibt, weil die Länder nicht der Reihe nach umfallen. Dieses Europa rettet uns jetzt vor dem Crash der 30er-Jahre.

STANDARD: Wenn Sie mehr Regulierung fordern, sind Sie auch für eine Tobin-Steuer?

Schwarz: Ja, natürlich, Tobin ist einer der genialsten Leute und sollte einen Nobelpreis kriegen. Mit so einer Steuer wären 80 Prozent dieser blödsinnigen Investmentspekulationen unrentabel. Dann braucht man sie nicht verbieten. Aber auch die Aufsichtsbehörden müssen besser besetzt werden, die gehören aufgewertet und grundsätzlich reformiert, damit es einen Anreiz gibt für gescheite Leute, in die Finanzmarktaufsicht zu gehen. Aber das muss EU-weit gemacht werden.

STANDARD: Ist Ethik eine Größe in diesem Spiel oder nicht?

Schwarz:  Das ist eine sehr umstrittene Frage, die wir jetzt unter den Philosophen lange diskutiert haben. Meine Hypothese ist, dass der Kapitalismus ein bisschen ein Rückfall auf die Urgesellschaft, auf archaische Strukturen ist. Der größere und stärkere frisst den Schwächeren. In der Natur nimmt im Tierreich der Stärkere dem Schwächeren das Essen weg, in der Hoffnung, dass der verhungert, was den evolutionären Vorteil hat, dass der seine schwächeren Gene nicht weitervererben kann. So ähnlich war's auch beim Homo sapiens. Aber irgendwann sind die Menschen draufgekommen, dass der Schwächere Mathematik kann, und wir lassen den nicht verhungern. Und das war der Beginn der Ethik, weil da haben sie eine Regel aufgestellt: Du sollst nicht stehlen. Wenn man Ethik jetzt so auffasst, im Allgemeinen Sinn, dass sie ein politisches Regulativ ist, dann war zu wenig Ethik da.

STANDARD: Also doch ...

Schwarz: Das ist der eine Begriff von Ethik, den ich für systematisch richtig halte: Wenn man sagt, Ethik sind Normen, die sich gegen die Natur richten. Es gibt kein Gebot, das sagt: "Du sollst nicht aufs Atmen vergessen", weil das tut ja niemand. Aber es gibt ein Gebot "Du sollst nicht stehlen", weil Stehlen eine normale Form der Ressourcenoptimierung darstellt. Das ist eine Regel gegen Ressourcenoptimierung, also gegen die Natur.

STANDARD: Also Ethik als Regeln gegen die "niederen Triebe"?

Schwarz: Wir sind eben noch immer Naturwesen. Aber es gibt noch einen zweiten Begriff von Ethik, und der funktioniert leider nicht, zum Beispiel der faire Preis: Dass man im Geschäftsleben sagt, ich zahle für einen Kaffee mehr Geld, weil es die Kaffeebauern in Peru schwerer haben als die in Afrika. Das funktioniert nicht, weil das Zeug kauft dann keiner. Diese Ethik im Sinn von Gewissen ist im Geschäftsleben nicht möglich, weil es sich nach Angebot und Nachfrage richtet. Da gibt es schöne Beispiele im Hochkapitalismus, die ethisch gehandelt haben, unternehmerisch aber zugrunde gingen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.1.2009)