Elazar Benyoëtz: "In Österreich geboren, das stand immer in meinen Papieren. Unverrückbar, nicht zu ändern, doch von welchem Gewicht?"

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Standard: Herr Benyoëtz, ist der Aphoristiker wirklich der "mit hohem Anspruch und geringem Ansehen"? Hat er nicht auch heute die Autorität des Weisen?

Benyoëtz: Ich komme aus der Lyrik und mache der Prosa meine Zugeständnisse, kann aber nicht umhin, alles als Dichtung zu verstehen. Ein Dichter hat das Wort, wenn's hochkommt, verschafft er sich Gehör. Auch der echte Prophet hatte immer nur das Wort und nie das Sagen. Er hatte keine Autorität, er wurde "Wort für Wort" autorisiert. Es waren immer falsche Propheten, die dachten, sie hätten das Sagen.

Der hohe Anspruch des Aphoristikers bleibt aber und muss gelten, wenn es den Aphorismus als "die kleinste Gattung" geben soll. Das Ansehen des Aphoristikers hingegen entspricht dem eigenen Umfang, dem geringsten, denn kein Wort ist unter einem Satz zu haben. Es gibt keine Aphorismenbücher zum Lesen, nur Aphorismenbände zum Auf- und Zuschlagen. Dieses Problem habe ich durch meine "Mischform" zu lösen gesucht. Den Aphorismus gibt es nur im Moment seines Einschlagens, den Aphoristiker nur in der Fülle seiner Sätze: durch diese Fülle und in ihr ist er wahrzunehmen, also lesbar. Trotzdem wird er als ungenießbar gelten, wenn er ohne Witz daherkommt und keine Sprachgrimassen schneidet.

Standard: In Ihrem Werk dominiert bis heute das religiöse Thema. Sie haben eine Rabbiner-Ausbildung absolviert?

Benyoëtz: In einem "geistreichen Augenblick" dachte ich bei mir, ein Diplom würde dem Untüchtigen nicht schaden. Ich war nie in Amt und Würde und nur einmal in die Versuchung gekommen, ein Amt zu übernehmen. Mit 14 oder 15 Jahren habe ich, unbeholfen genug, die Sprüche Salomos kommentiert. Meine Werke sind übrigens alle spät zu datieren. Ich bin mir immer voraus; hole ich mich ein, ist auch mein Werk überholt. Die Bücher müssen immer wieder geschrieben werden.

Standard: Als Elazar Benyoëtz wollten Sie ein hebräischer Dichter werden. Dann hat die deutsche Sprache Sie ergriffen?

Benyoëtz: Ja: "Die deutsche Sprache macht mit mir, was ich will." Mein Jerusalemdeutsch ist die Quintessenz dessen, was einst eine deutsch-jüdische Literatur gewesen ist.

Standard: Sie haben mit der "Bibliographia Judaica" eine einzigartige Datensammlung ins Leben gerufen, die den Beitrag der Juden zur deutschen Literatur in seiner Totalität festhält.

Benyoëtz: Das ganze Erbe besteht im Wissen von ihm, und ich war sicher nicht unwissend - Martin Buber sagte mir einmal, ich wüsste über seine Freunde besser Bescheid als er selbst -, aber ich wollte das große Wissen. Wie viele waren es, was haben sie gedacht, geschrieben? Zuallererst: Die Bücher in Autopsie, die Daten aus den Urkunden. Nichts abgeschrieben, nichts nachgeplappert. Es sah trocken aus, ich aber blieb nüchtern dabei: allerwegs auf das Gold der Poesie bedacht. Autorennamen, Lebensdaten, Büchertitel - sie sind gerettet, was man aber "an Menschen vernichtet, geht auch als Sprache verloren".

Standard: Gibt es eine Zukunft für die jüdische Dichtung in deutscher Sprache?

Benyoëtz: Die Zukunft wird auch in Zukunft aus und in Menschen bestehen, die ihre Gegenwart, in Träumen verwandelt, ausdehnen. Jüdische Dichter wird es in Zukunft geben, wie es sie in der Gegenwart gibt. Eine deutsch-jüdische Literatur hingegen wird es erst dann wieder geben können, wenn Juden auch für Juden schreiben.

Standard: Österreich firmiert bei Ihnen als "das mir fernste" Land.

Benyoëtz: Geburt, Anschluss, Entwurzelung schufen die Gemütslage für das "fernste Land". In Österreich geboren, das stand immer in meinen Papieren. Unverrückbar, nicht zu ändern, doch von welchem Gewicht? Darüber musste ich mir im Klaren sein, aufgeklärt musste ich aber zuerst über Österreich werden. Das geschah 1962. Viele Dichter habe ich da kennengelernt, von der Fülle der Begabungen angetan, durch manche Erscheinungen aber auch alarmiert. Eine fast harmlose war die Feier des 80. Geburtstags Max Mells. Keiner der mir bekannten Literaten wusste oder wollte von Mells Bekenntnis zum Führer 1938 wissen.

Das "Bekenntnisbuch österreichischer Dichter" befand sich im Rathaus unter Verschluss. Ich war neugierig und begeisterungsfähig und habe alles persönlich genommen. Ich ging über die Grenze und landete auf Deutschlands verruchtem Boden. Damit habe ich vieles verloren, eins aber gewonnen: klare Verhältnisse, die in Österreich nicht zu gewinnen waren.

Standard: Ist Österreich Ihnen nähergerückt?

Benyoëtz: Ich wurde hier nicht wahr- oder nicht ernst genommen. Hans Weigel war mein getreuer Rezensent, aber nur in Deutschland (in der FAZ). Ich hatte dennoch immer den Wunsch, eine kleine Spur in Österreich zu hinterlassen. Nun werde ich 72, bin 40 Jahre auf dem Plan - und immer noch nicht in Österreich angekommen.

(Daniela Strigl, DER STANDARD/Printausgabe, 12.01.2009)