"Das Finanzsystem und der Kapitalismus sind in den letzten 15 bis 20 Jahren zu einer Religion geworden", sagt Diakonie-Direktor Michael Chalupka. Die Finanzkrise entmythologisiere diese.

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Standard: Was ist für Sie der Sinn von Geld und dessen Vermehrung?

Chalupka: Das Leben mit möglichst wenig existenziellen Krisen leben zu können, sodass persönliche Verwirklichungschancen, Freiheiten nicht dadurch unmöglich werden, dass sie am Dringendsten und Überlebensnotwendigsten scheitern.

Standard: Hat Sie die Finanzkrise überrascht?

Chalupka: In den letzten 15 bis 20 Jahren habe ich beobachtet, dass das Finanzsystem und der Kapitalismus zu einer Religion geworden sind. Insofern hat mich das als Theologe nicht überrascht, weil ich natürlich an Gott und das Evangelium und nicht an die heilenden Kräfte des Marktes glaube. Es war eine Frage der Zeit, wann diese Religion, dieser Religionsersatz Kapitalismus brüchig wird. Ich sehe deswegen diese Krise als Entmythologisierung eines falschen, angeblich nach Naturgesetzen funktionierenden Konzepts, dass der Markt alles macht, sich selbst heilt, der Staat nur stört, dass sozialstaatliche Maßnahmen die Wirtschaft am Wachstum hindern, dass man geglaubt hat, Geld könne arbeiten, ohne dass es den Umweg über die Produktion und die Arbeit nimmt.


Standard: Dem Soziologen Max Weber zufolge war es der protestantische Geist, der den Kapitalismus zur vollen Entfaltung gebracht hat.

Chalupka: Max Weber hat eine Herleitung des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik gemacht, das aber gleichzeitig schon als Kritik an dem Kapitalismus, wie er ihm begegnet ist, verstanden. In der protestantischen Ethik war der Genuss des Reichtums, waren Gewinne nie Ziel, sondern es ging verkürzt gesagt darum, durch wirtschaftlichen Erfolg die eigene Erwählung durch Gott bestätigt zu bekommen. Deswegen wurde das Kapital wieder direkt in die Produktion reinvestiert und dadurch auch das Gemeinwohl gestärkt. Und das nennt Weber die Geburtsstunde des Kapitalismus.

Standard: Also doch.

Chalupka: Nicht ganz. Weber kritisiert den profitorientierten Kapitalismus seiner Zeit. In seiner protestantischen Ethik geht es ihm immer auch um das Los der Schwächsten und Ärmsten. Zudem zeigen neueste Forschungen, dass Weber nur halb recht hatte. Der Bildungsökonom Ludger Wößmann zeigt in einer Vorabpublikation seiner Studie mit dem Titel 'Lag Weber falsch?' in der Zeit auf, dass sich der wirtschaftliche Vorsprung, den es in protestantischen Gebieten gegeben hat, vor allem auf den Bildungsvorsprung dort zurückgeführt werden kann.


Standard:
Der Kapitalismus, aber auch der Kommunismus, ist gescheitert. Was für Alternativen sehen Sie?

Chalupka: Was gescheitert ist, ist der Kapitalismus als System von quasi naturgesetzlichen Vorgaben, in dem sich viele Politiker als Opfer gesehen haben. Alle haben beteuert, sich um die Verlierer, die Ärmsten kümmern zu wollen, aber die Sachzwänge seien ja so groß, und deswegen müssten die sozialen Kosten gesenkt werden. Die Krise hat aber etwas Positives: Die Politik kommt wieder darauf, dass sie das Primat hat, dass Regeln, unter denen Marktwirtschaft passiert, von Menschen geschaffen, eine gesellschaftliche Übereinkunft sind und diese auch geändert werden kann.


Standard: Wie soll das in einer globalisierten Welt gehen?

Chalupka: Globalisierung heißt, dass das, was Marktwirtschaft ist, in einem globalen Rahmen passiert. Also brauchen wir globale Regeln und eine Ethik der Ökonomie, die global ist. Was wir brauchen, ist eine zukunftsfähige, soziale und ökologische Marktwirtschaft. Allerdings bin ich mir noch nicht ganz sicher, ob die Politik diese Lektion schon gelernt hat. Oder ob sie im Moment nur versucht, mit enormem Kapitaleinsatz ein gescheitertes System weiterzuhalten.


Standard: Was erwarten Sie sich für Signale seitens der Politiker?

Chalupka: Vor allem, dass sie Wirtschaft und demokratischen Diskurs wieder zusammenführen. Globale Wirtschaft galt bisher als etwas Mystisches. Es war undenkbar, dass irgendjemand demokratisch mitdenken konnte. Auch die Bürger sind dabei zu Zuschauern mutiert worden, weil die Banker und Wirtschaftsexperten uns vermittelt haben, dass das für Normalsterbliche viel zu kompliziert zum Verstehen sei. Und das halte ich für enorm gefährlich. Weil auch dieser Glaubenssatz, dass freie Marktwirtschaft automatisch Demokratie fördert, sich als falsch erwiesen hat. Siehe etwa das heutige China.


Standard: Die Banken haben Riesensummen erhalten. Wie wird sich das auf die sozialen Ausgaben auswirken?

Chalupka: Man möchte ja meinen, dass der Satz "Wir können uns nicht mehr leisten" für Politiker jetzt streng verboten sein müsste, wenn es um eine Valorisierung von sozialen Ausgaben geht. Das Gegenteil ist der Fall. Dabei bräuchte es jetzt dringend ein drittes Konjunkturpaket, um die Menschen, die in Österreich in Armut leben, zu stützen. Teil dieses Konjunkturpakets müsste die bedarfsorientierte Mindestsicherung sein, die ja nur am Einspruch Kärntens hängt.


Standard:
Was würden Sie noch in ein drittes Konjunkturpaket packen?

Chalupka: Was es noch braucht, ist ein Ausbau der sozialen Infrastruktur, in der Kinderbetreuung etwa oder im regionalen Ausbau von kleinen Einheiten in der Altenhilfe. Damit kann nicht nur die Bauwirtschaft gefördert, sondern auch Arbeitsplätze für Frauen geschaffen werden, die ja jetzt bei den Maßnahmen überhaupt nicht vorkommen. Gerade im Gesundheits- und Pflegebereich gibt es einen enormen Wachstumsmarkt, auch für Beschäftigung.


Standard: Die Weltwirtschaftskrise 1929 hat zu einem Auftrieb populistischer rechter Parteien geführt. Sehen Sie diese Gefahr jetzt auch?

Chalupka: Die Menschen sind frustiert und verängstigt, weil sie die Vorgänge nicht verstehen können, und suchen nach Halt. In dieser Sphäre haben die Propheten der leichten und schnellen Antwort ein leichtes Spiel, weil sie vorgeben, einfache Lösungen und immer einen vermeintlichen Sündenbock zu haben, etwa die Ausländer. Diese Tendenz kann man nur auflösen, indem es wieder einen Diskurs gibt, in dem soziale Marktwirtschaft und Demokratie als zusammengehörig gesehen werden.


Standard:
Friedensnobelpreisträger Martti Ahtisaari hat einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz gefordert. Kann es so etwas geben?

Chalupka: Wenn man davon ausgeht, dass die Marktwirtschaft dem Menschen dient und nicht umgekehrt. Dazu braucht es klare Zielbestimmungen. Etwa, dass sich eine Gesellschaft daran misst, wie sie mit den Schwächsten, wie mit der Chancengleichheit zwischen Frau und Mann sowie zwischen Nord und Süd umgeht. (Karin Tschentke, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7.1.2008)