Wien - Vorsicht vor Bilanzen! Das Ergebnis könnte ernüchternd ausfallen! Marko Doringer, Regisseur und Protagonist des Dokumentarfilms Mein halbes Leben, blickt mit 30 Jahren auf sein Leben zurück. Und da findet sich nicht viel, worauf er stolz ist: Aus seinem Projekt, mit Anfang zwanzig nach Berlin zu gehen, um von dort aus die Welt zu erobern, ist nicht viel mehr geworden als eine karg möblierte Wohnung in Kreuzberg. Die finanzielle Lage: prekär. Die sozialen Lebensumstände: Single, kinderlos. Selbst die Lebensversicherung, kommentiert er nüchtern aus dem Off, zahlt der Vater.
Die erste Lebenskrise ist also da - mit voller Wucht. Doch Krisen verleiten manchmal auch zu ungewöhnlichen Manövern. Doringer, der ursprünglich aus Salzburg stammt, verkriecht sich nicht in seinem Elend, sondern erweitert den individuellen Fall zur allgemeinen Frage: Kann es sein, dass es anderen Menschen im selben Alter genauso geht? Schließlich gelten für jede Generation bestimmte Rahmenbedingungen, die sich dann auf vergleichbare Weise bei Einzelbiografien auswirken. Antworten darauf sucht Doringer bei Freundinnen und Freunden, die er einst in Österreich zurückgelassen hat.
Mein halbes Leben - bei der vergangenen Diagonale als bester Dokumentarfilm prämiert und seitdem zum Festivalliebkind gewachsen - gelangt auf diese Weise rasch von der Eigentherapie zur umfassenderen Bestandsaufnahme, bei der man sich da oder dort wiedererkennt. Das Alter garantiert einen Möglichkeitsraum, zwischen Beruf, Familie und dem Ich-Ideal ist noch längst nicht alles ausgemacht: Lebensentwürfe stehen ständig auf der Kippe, Lebensträume werden gern auf die lange Bank geschoben. Der Film wird wie von selbst mit überraschenden Wendungen versorgt.
Heimliche Leidenschaften
Das Vertrauen, das Doringer bei seinen Protagonisten herstellt, verdankt sich seinem ungebrochen persönlichen Zugang. Er führte meist auch selbst die Kamera (oder trägt sie, um den eigenen Blick zu simulieren, gar am Kopf). In den Begegnungen wird endlich offensichtlich, dass auch den anderen Existenzen etwas Provisorisches anhaftet: Martin, der Sportjournalist, hat zwar ein sicheres Dasein mit Angestelltengehalt, würde sich aber viel lieber schöpferisch betätigen; die Modedesignerin Katha tut dies zwar bereits, dafür geraten ihr familienplanerische Fragen in die Quere; Tom, der als Manager sein Geld verdient, erscheint am gefestigtsten, aber auch er hegt seine geheime Leidenschaften.
Über die Befragung der anderen gelangt Doringer zurück zu sich selbst - ein Umweg führt zu seinen Eltern, deren väterliche Seite er an seiner Malaise mitverantwortlich macht. Weil der Regisseur als Darsteller seiner selbst auch intime Momente der (Selbst-)Preisgabe nicht ausspart - und insgeheim mit der Rolle des Losers kokettiert -, verfügt Mein halbes Leben über beträchtlichen Witz. Aus der Summe der Einzelbeobachtungen entsteht so das Bild einer Generation, der der eigene Zwang zur Flexibilität nicht ganz geheuer erscheint. Lösungen (samt jener des Films) sind fragwürdig: Der Blick zurück, auf scheinbar lineare Lebensmodelle, hilft jedenfalls keinem. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD/Printausgabe, 31.12.2008)