Cover: S. Hirzel Verlag

Wenn es auf Sumatra regnet, dann tut es das tropisch, das heißt: in sintflutartigen Mengen. Einige Orang-Utan-Populationen auf der südostasiatischen Insel haben gelernt, dass sie bei diesem Wetter weniger nass werden, wenn sie sich mit Teilen der Vegetation bedecken. Zu den gerne verspeisten Früchten der dortigen Menschenaffen zählen auch jene des Neesia-Baumes. Um an die fettreichen Samen der riesigen Früchte zu gelangen, greifen einige Tiere zum Werkzeug: ein kleines Stöckchen hilft den rotenhaarigen Affen die Kerne aus den zu Füßen des Baumes liegenden aufgeplatzten Früchten zu fischen.

Auch hier bedienen sich nicht alle lokalen Gruppen diese Technik. Auf der einen Seite des Flusses Alas ist der Boden unter den Neesia-Bäumen mit gebrauchten Stöckchen bedeckt, am anderen Ufer kennt man diese Fähigkeit nicht; die breite natürliche Barriere verhinderte, dass sich dort der Werkzeuggebrauch etablierte. Sumatras Orang Utans sind nur ein Beispiel von mehreren, anhand derer Volker Sommer gleich in den ersten beiden Kapiteln von "Darwinisch denken" der Tabu-Frage nachgeht: Sind Tiere auch Kulturwesen, sozusagen "ungezähmte Multikultis"?

Affenwelten

Für den Anthropologen und Evolutionsbiologen vom University College in London ist die Antwort eindeutig Ja. Um diesen Standpunkt, den er nachdrücklich aus der Sicht eines Darwinisten verteidigt, zu untermauern, bedient er sich in seiner Essay-Sammlung nur selten Forschungs-Ergebnissen aus zweiter Hand. In drei Kapiteln unter dem Oberbegriff "Affenwelten" schildert er detailgenaue Beobachtungen aus der eigenen wissenschaftlichen Arbeit.

In der Kooperation und Konkurrenz zwischen indischen Tempelaffen, der Paarbildung von Gibbons in Thailand oder den Konflikten zwischen Schimpansen in Nigeria zieht Sommer Parallelen zum menschlichen Verhalten - die regelmäßig unterstrichenen Unterschiede zwischen Kultur und Natur löst der "Kulturzoologe" dabei zugunsten einer wesentlich differenzierteren Betrachtungsweise auf. Der Darwinist Sommer betont in dieser Frage stets den "steten Wandel" der Lebewesen und versucht den traditionell postulierten Graben zwischen Mensch und Tier mit Beispielen von Verwandtschaftshilfe, Fortpflanzungsstrategien, Monogamie und der Tötung von Artgenossen zu überbrücken.

Überholte Art

Volker Sommer reibt sich mit unbequemen Thesen nicht zum ersten Mal an etablierten Theorien, schon früher konnte sich der Primatenforscher selbst bei Fachleuten außerhalb seines Gebietes einen Namen machen. Auch in der vorliegenden Textsammlung bringt er liebgewonnene Ansichten ins Wanken, verpasst der vielbeschworenen moralischen Aufwertung des Menschen gegen über dem Tier einen Dämpfer. In einem eigenen Kapitel räumt Sommer mit der Idee der "Menschenrassen" auf - ja selbst die Art als biologisches Prinzip ist ihm suspekt: "Wären dann die lediglich 0,4 Prozent Unterschied zwischen Schimpansen und Menschen nicht Grund genug, den Schimpansen als Homo troglodytes zu bezeichnen - oder den Menschen als Pan sapiens?"

Nur konsequent scheint es, dass sich Sommer auch "wilde Fragen" stellt: In einem abschließenden Kapitel legt er die "Risse im theologischen Weltbild" frei, die von der "zeitgenössischen Kirche wortgewandt übertüncht werden, sich aber angesichts naturwissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder auftun". Die Beschäftigung mit diesem Thema kommt nicht von ungefähr, hat der Autor schließlich neben Biologie und Chemie auch Theologie studiert. Sommer stellt fest, dass Tod und Zerstörung, Alter und Schmerzen evolutionäre Prinzipien widerspiegeln und führt auf diesem Wege die christliche Lehre teilweise ad absurdum.

Rütteln an Ideen

Zwar ist nicht zu übersehen, dass "Darwinisch denken" eine Zusammenstückelung von überarbeiteten früheren Aufsätzen ist - das Buch wirkt etwas fragmentarisch und eine inhaltliche Abrundung und Zuspitzung hätte ihm sicherlich gut getan - doch Sprachwitz, der provokant-lockere Stil und die Schilderung persönlicher Eindrücke bei seinen Forschungen machen aus dem wissenschaftlichen Werk dennoch eine unterhaltsame Lektüre. Man muss nicht unbedingt jeder seiner These zustimmen, doch die Art und Weise, wie Sommer sie mit Fakten und Beispielen untermauert, neue Perspektiven bietet und an den Fundamenten etablierter Idee rüttelt, regen einen zumindest in vieler Hinsicht zum Nachdenken an. (tberg)