Alison Smale

foto: DER STANDARD/Michael Freund

Die wachsenden Spannungen und Missverständnisse zwischen den ehemals ehernen transatlantischen Verbündeten scheinen uns tägliches Diskussionsthema. Sieht man das auch "drüben" so? Sind die Motive für den Dissens, die Positionen der europäischen Staaten in Amerika überhaupt ein Thema?

Antworten suchen wir bei Alison Smale, der stellvertretenden außenpolitischen Ressortleiterin der New York Times. Die gebürtige Engländerin hatte Politikwissenschaft in Bristol und Journalismus an der Stanford-Universität studiert, bevor sie ab 1978 in West- und Osteuropa, unter anderem in Wien, als Korrespondentin arbeitete. Seit 1998 ist sie für die Times in New York tätig.

Wie groß sind die Spannungen wirklich? Sie antwortet mit der Gegenfrage, welches Europa gemeint sei. "Die Bush-Regierung sieht zwar eine wirtschaftliche Einheit, mit der sie auch nur ungern einen Streit haben möchte. Ansonsten nimmt sie Europa in Komponenten wahr - wie das Europa im Übrigen auch tut. Sie unterscheidet auch zwischen Frankreich und Deutschland und geht davon aus, dass Letzteres im Unterschied zu den Franzosen wirklich bei seiner pazifistischen Handlung bleibt - was ja letztlich auf einen (Reeducation-)Erfolg der Alliierten zurückgeht. Wobei die deutschen Truppen andererseits sehr wohl im Mittleren Orient eingesetzt sind. Also ein sehr kompliziertes Bild."

Es sei etwas dran an dem Szenario, das Robert Kagan vor einem Dreivierteljahr in Policy Review gemalt hat. In seinem Essay On Paradise and Power. America and Europe in the New World Order (er erschien soeben auf Deutsch) vertieft er die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Staaten: Es sind naturgemäß die schwachen, die auf multilaterale Lösungen und Zusammenarbeit drängen. Und das sei wirklich die Position der europäischen Länder. Wobei, schränkt Smale ein, Großbritannien die interessante Ausnahme sei - eine immer noch global agierende Militärmacht (dem werde Frankreich nicht lange nachstehen wollen); und ein Mann an der Spitze, Blair, der regelmäßig in die Kirche geht, ganz wie sein amerikanischer Kollege. Rechne man noch die geradezu stürmisch proamerikanische Linie der nächsten Beitrittsländer hinzu, dann, so Smale, fächert sich der Begriff "Europa" endgültig auf. Wie wird dieser, sagen wir mal: Sammelbegriff in der amerikanischen Öffentlichkeit wahrgenommen - wenn überhaupt? Auf die skeptische Zusatzfrage, die auf ein großes Informationsdefizit abzielt, reagiert die Times-Außenpolitikerin zunächst in eigener Sache: "Ich denke, wir kommen der Berichterstattungspflicht so gut wir können nach. Wir berichten aus allen Teilen der Welt. Allein in den letzten zwei Wochen zum Beispiel hatten wir drei große packages an Reportagen: über Antiamerikanismus in Westeuropa, über das neue Osteuropa, über das Leben für Amerikaner in verschiedenen Teilen der Welt. Wir berichten ferner darüber, welche Agenda Washington setzt, und hinterfragen die Motive der Regierung."

Man könne sagen, die Times-Leute hätten Glück, weil ihnen mehr Ressourcen als den meisten Medien zur Verfügung stehen, um wirklich weltweit berichten zu können. "Für kleinere Zeitungen ist das schwieriger, und auch für Fernsehanstalten, deren Apparat ungleich aufwändiger ist. Die haben eben nur eine begrenzte Anzahl an TV-Crews, und die sind mittlerweile alle am Persischen Golf konzentriert. Dieser Aufbau vermittelt eine scheinbare Unausweichlichkeit des Krieges. Wir können das hinterfragen, auch das gehört zu unseren Pflichten." Ihrer Zeitung wird abwechselnd zu viel und zu wenig Auslandsengagement bzw. zu harsche und zu sanfte Kritik an der US-Außenpolitik vorgeworfen - etwas scheint die Times also richtig zu machen. Aber, Ms. Smale, die Mehrheit in den Staaten sieht eben CNN oder (Murdochs) Fox. Ist man damit in irgendeiner Weise informiert? "Ach, wissen Sie, jeder ist so gut informiert, wie er oder sie will. Ich war gerade in Florida, und ich muss sagen, die Zeitungen dort tun einen guten Job. Man wird informiert, nicht nur in der Theorie (also dass man ja immer auch das Internet hat oder die Zeitungen abonnieren kann, die man will), sondern tatsächlich, in der täglich anzutreffenden Praxis." Zugegeben, als sie vor Jahren längere Zeit in Wyoming war, da merkte sie schon, wie weit auch nur der nächste Staat weg war, geschweige denn Washington oder gar Europa. Darauf aber gebe es die beliebte Rückfrage: Wie viel wissen denn die Leute in Europa über Wyoming?

Der Vergleich führt uns im Moment nicht weiter bzw. wir würden dagegenhalten, dass zurzeit die unterschiedlichen Auffassungen zwischen, sagen wir, Polen und Frankreich doch wichtiger sind als die zwischen Wyoming und Montana. Wir zitieren den britischen Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash, der nach einer Erkundungsreise durch Amerika bei aller Sympathie verblüfft war über die vorherrschenden Unkenntnis. Läuft das doch wieder nur auf die alte transatlantische "Bildungsdebatte" hinaus? Smale bejaht zum Teil und gibt der Debatte eine parteipolitische Drehung: "Wenn Sie sich die Wahlergebnisse im heartland anschauen, dann werden Sie sehen, dass die blauen (d.h. demokratischen) Inseln im roten, republikanischen Meer immer dort waren, wo es College-Towns gibt, also höhere Bildung, mehr Einkommen, größeren Reisehorizont usw. Wer das alles nicht hat, hat mit größerer Wahrscheinlichkeit Bush gewählt."

Und weil gerade von Frankreich die Rede war: Dessen Beziehung zu den Vereinigten Staaten sei besonders kompliziert, sehen sich doch beide Nationen als Flaggschiffe der Freiheit, "und beide haben Recht! Seit Benjamin Franklin die Franzosen im Grunde verraten und sich auf die englische Seite geschlagen hat, gibt es eine Rivalität, auf dem sprachlichen und dem kulturellen Gebiet. Wirtschaftlich und militärisch sind die beiden Länder nicht in derselben Liga, aber um die kulturelle Überlegenheit wird weiter gestritten - damit ist es Chirac völlig Ernst. Aber damit wir es nicht unsererseits übertreiben: Die Arten der Kontrahenten, sich auszudrücken, mögen total unterschiedlich sein, aber nicht, was unterm Strich steht." Was möglicherweise noch ein Glück ist. (ALBUM/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 1./2.3.2003)