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Schwanger trotz Virus? Ist möglich.

Foto: APA/dpa/Heiko Wolfraum

Ist ungeschützter Sex trotzt HIV-Infektion in Ordnung? Insbesondere dann, wenn er zur Schwangerschaft führt? Das Schweizer Statement, Anfang des Jahres veröffentlicht und auf der diesjährigen Welt-Aids-Konferenz in Mexiko-Stadt kritisiert, sorgt zwar auch hierzulande nach wie vor für Diskussionen, ist aber inzwischen auch österreichische Position.

Das Papier von Schweizer HIV-Therapeuten um Pietro Vernazza vom Kantonsspital St. Gallen besagt, dass antiretroviral behandelte HIV-Infizierte in Partnerschaften unter bestimmten Bedingungen beim Sex auf Kondome verzichten können. Sie hätten nämlich dasselbe "geringfügige" Infektionsrisiko wie Nichtinfizierte. Voraussetzung: stabile HIV-Therapie, kein HI-Virus im Blut nachweisbar und keine Geschlechtskrankheiten.

Das Statement würde, argumentieren Kritiker, sämtliche Aufklärungsmaßnahmen, die auf eine vermehrte Verwendung von Kondomen abzielten, torpedieren, jahrzehntelange Präventionsarbeit zunichte machen.


Öffentlich statt intern

"Öffentlich dasselbe zu kommunizieren, was bisher nur in vielen Arzt-Patienten-Gesprächen intern thematisiert wurde, war eines der Ziele unseres Statements", erklärt dazu Pietro Vernazza. "Sehr klar haben wir mitgeteilt, dass sich an den Präventionsbotschaften nichts ändert. Und eine Befragung unter Patienten zeigt, dass die Botschaft genau so aufgenommen wurde, wie sie gedacht war: keine Verhaltensänderung, aber eine massive Entstigmatisierung", bestätigt der HIV-Spezialist.

Ein Hintergrund des Statements waren auch mehrere in der Schweiz anhängige Gerichtsprozesse. "Die im Statement dargelegten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Nichtinfektiosität bestimmter HIV-positiver Patienten haben auch Auswirkungen auf die Strafbarkeit der HIV-Übertragung", argumentiert Vernazza weiter: "Wer nicht infektiös ist, kann sich durch ungeschützten Geschlechtsverkehr auch nicht strafbar machen." Die Entkriminalisierung trage wie die Entstigmatisierung zu einer besseren Akzeptanz des HIV-Tests und der Therapie bei.
Starker Kinderwunsch

In Österreich sind derzeit keine anhängigen Verfahren gegen HIV-infizierte Menschen bekannt. Wohl aber ist das Thema aktueller denn je. Immerhin: Dank moderner Therapien können Patienten zwar nicht geheilt werden, ihre Virus-Last, also die Zahl der HI-Viren im Blut, kann jedoch unter die Nachweisgrenze gesenkt, damit das Infektionsrisiko gegen null reduziert und der Ausbruch von Aids zumindest sehr lange Zeit verhindert werden.

Aufgrund der steigenden Lebenserwartung von HIV-positiven Menschen steigt auch die Zahl der Paare, bei denen zumindest ein Partner infiziert ist, die einen Kinderwunsch haben. Was also tun? Fortpflanzungsverbot?

Ist der Mann infiziert, bietet die Wissenschaft inzwischen spezielle antivirale Reinigungsverfahren an, um das Ejakulat von HI-Viren zu befreien und für eine In- vitro-Fertilisation aufzubereiten. Das Problem: Neben den hohen Kosten für die künstliche Befruchtung ist auch die Virenentfernung sündteuer und vor allem: nicht 100-prozentig sicher. Ganz abgesehen davon, dass das Verfahren die Samenqualität beeinträchtigt, sodass meist noch mehr Befruchtungsversuche als sonst notwendig werden. Was die Kosten, die von den Kassen nicht übernommen werden, noch einmal in die Höhe treibt. Für viele Paare sind die bis zu 10.000 Euro dafür zu teuer.

Den Betroffenen dann zu sagen, sie sollen auf Nachwuchs verzichten, sei kontraproduktiv, erklärt Armin Rieger, Leiter der HIV-Ambulanz an der Wiener Uniklinik. "Der Kinderwunsch ist zutiefst menschlich und so dominierend, dass viele Paare dennoch Kinder in die Welt setzen" - nur dann eben ganz ohne ärztliche Begleitung, was fatal sein könne.

"Auch wenn im Blut keine Viren nachweisbar sind, so kann im Genitaltrakt eine Virenreplikation vonstatten gehen", erklärt Rieger. Also sollten Frauen rund um den Eisprung eine antiretrovirale Therapie bekommen - "Pre Expositionsprophylaxe" (Prep) nennt man das. Damit sinke die Transmissionsrate auf nahezu null.

Verbot kontraproduktiv

Zudem sollten sie Östrogene als Zäpfchen lokal bekommen, denn das Hormon stärke die Widerstandskraft des Vaginaltraktes gegen das HI-Virus. Dann sei ungeschützter Sex mit daraus resultierender Schwangerschaft kein Problem. Freilich nur bei ständiger Beobachtung der werdenden Mutter.

Sollte sich die Frau während der Schwangerschaft infizieren oder bereits HIV-positiv sein, so gebe es auch geeignete Therapien, um die Übertragung des Virus auf das Baby zu unterbinden. Die Plazentaschranke allein ist im Falle HIV nämlich durchlässig: Bei bis zu 25 Prozent aller infizierten Schwangeren, die nicht therapiert werden, kommt das Kind HIV-positiv zur Welt. Bei behandelten Schwangeren sinkt die Transmissionsrate auf unter drei Prozent.

Ein generelles Problem sei aber, beklagt Rieger, dass HIV noch immer stigmatisiert werde, "nicht nur in Österreich, sondern auch in Hochrisikoländern." Deshalb würden sich viel zu wenige Menschen testen lassen.

Statistisches Material

Wie viele Menschen sind nun infiziert und vor allem: wer? Am objektivsten Auskunft darüber gibt die HIV-Kohortenstudie mit Daten der HIV-Ambulanzen Wien, Graz, Salzburg, Klagenfurt und Innsbruck sowie Schwerpunktpraxen in Wien und Vorarlberg, koordiniert von Spezialisten der Uniklinik Innsbruck.

"Die offiziellen Zahlen von bis zu 15.000 HIV-Infizierten in Österreich sind zu hoch gegriffen", sagt Mario Sarcletti vom Innsbrucker Studienteam: "Wir gehen von 7000 Infizierten aus, eine Dunkelziffer von 30 Prozent eingerechnet."

Das Alter der Betroffenen bei der ersten Diagnose liege heute bei 34 Jahren, ausgenommen Drogenabhängige, bei diesen liege es bei 29.

Die Gruppe der homo- und bisexuellen Männer sei mit 30 Prozent aller Infizierten heute weniger betroffen als die heterosexuelle Gruppe mit 40 Prozent. 19 Prozent seien Drogenpatienten, der Rest nicht verifizierbar. Und 27 Prozent aller Infizierten seien Frauen, sagt Sarcletti.

Anders als in Stammtischgesprächen diskutiert, läge der Anteil bei Migranten aus Hochrisikoländern wie Afrika und Asien mit nur 31 Prozent aller neuinfizierten Heterosexuellen im unteren EU-Spektrum. Im Schnitt seien es 40 bis 50 Prozent, in nordischen Ländern noch mehr. 76 Prozent aller in Österreich infizierten Menschen seien aus Österreich.

Was Sarcletti Sorgen bereitet: Der Anstieg von Geschlechtskrankheiten wie Syphilis lasse auf einen immer gedankenloseren Umgang mit Sex schließen. (Andreas Feiertag, DER STANDARD, Printausgabe, 1.12.2008)