"Die Zuseher sollen viel Freiraum zum Denken haben. Ich gebe ihnen Material, mit dem sie sich beschäftigen können."  – Dokumentarist Nicolas Philibert.

Zur Person:
Nicolas Philibert, geb. 1951, Dokumentarfilme u.a.: "La Ville Louvre" (1990), "La moindre des choses" (1997); "Être et avoir"  erhielt u. a. einen César und den Europäischen Dokumentarfilmpreis.

 

 

Foto: STANDARD/ Newald

Im Jahr 1975 Teil eines Filmprojekts und heute noch (Selbst-)Darsteller: Roger Peschet – von Nicolas Philibert für "Retour en Normandie/Rückkehr in die Normandie"  wieder gefunden.

 

 

Foto: Stadtkino Filmverleih

 

 

Foto: Stadtkino Filmverleih

Isabella Reicher sprach mit Philibert übers Lernen aus Erfahrung.

Im Jahr 1975 realisierte ein Regisseur namens René Allio in der Normandie ein ungewöhnliches Projekt: Für Moi, Pierre Rivière ..., seine filmische Rekonstruktion eines historischen Mordfalls, suchte und fand er vor Ort ansässige Laien, die den jungen Täter, seine Familie und das weitere Personenumfeld verkörperten. Zu Allios Team gehörte auch der 24-jährige Nicolas Philibert. Der wurde später selbst Filmemacher und landete 2002 mit Être et avoir (Sein und haben), der Beobachtung des Alltags in einer Einklassenschule, einen beachtlichen Dokumentarfilmerfolg.

Dieser Erfolg, sagt Philibert, habe ihm nunmehr erlaubt, "einen unerwarteten, viel persönlicheren Film zu machen. Viele Leute haben gedacht, ich würde jetzt Être et avoir 2 drehen." Stattdessen kehrte er zurück zu jenen Menschen, die einst für Allios Film vor der Kamera standen. Und vor allem zur Frage, ob und wie das Projekt nach Ende der Dreharbeiten in deren Leben weiterwirkte.

Standard: Ein Thema, das vielen Ihrer Filme zugrunde liegt, sind Lernprozesse, Erfahrungen, die die Protagonisten machen. Was interessiert Sie daran so, dass Sie das immer wieder aufgreifen?

Philibert: Darauf gibt es zwei Antworten. Zunächst lerne ich gerne selbst etwas, wenn ich Filme mache. Ich versuche nicht, im Vorfeld alles Mögliche zu recherchieren, Bücher zu lesen etc., um das dann im Film auszubreiten. Meine Vorgangsweise ist nicht didaktisch. Ich will anderen nichts beibringen in einem instruktiven Sinne.

Standard: Und was ist die zweite Antwort?

Philibert: Weshalb ich gerne Leute zeige, die etwas lernen? Ich beschäftige mich gerne mit Leuten, die mit Schwierigkeiten konfrontiert sind, die vor einer Herausforderung stehen. Ich filme oft ganz banale Situationen - in einer Schule, in einer psychiatrischen Klinik. Keine spektakulären Ereignisse - ich bin ein Filmemacher des Alltäglichen. Aber ich glaube, dass sich hinter der vermeintlichen Banalität dieses Alltags eindrückliche Dinge abspielen: Die Schulkinder in Être et avoir lernen lesen, schreiben, rechnen. Das ist nichts Besonderes, aber für die konkreten Kinder ist es keineswegs banal, sondern ganz schön schwierig.

Standard: Welche Bedeutung hatte Allios Film eigentlich für Ihr Leben?

Philibert: Das war wiederum eine sehr wichtige Erfahrung für mich. Bevor wir zu drehen begannen, war ich als Assistent ins Casting eingebunden. Ich musste Bauern finden und überreden, mitzuwirken; Leute, die sehr weit von unserer Filmwelt entfernt lebten, die dem misstrauten. Wir sind fast drei Monate lang von Hof zu Hof gezogen und haben versucht, unsere Liebe zum Kino mit ihnen zu teilen. Und für Dokumentaristen ist das ein großes Thema: Was lässt man zurück, nachdem man einen Film gemacht hat? Wenn man mit professionellen Darstellern arbeitet, dann ist klar, dass sie bald eine andere Rolle spielen werden. Wenn man Leute in ihrer realen Umgebung, bei ihren gewohnten Tätigkeiten aufnimmt, die nicht darauf vorbereitet sind und die plötzlich eine Filmfigur werden, dann übernimmt man Verantwortung. Es kann schwierig sein, damit umzugehen, dass es irgendwann zu Ende ist. Man weiß nie, was das auslöst, und das erfordert Achtsamkeit.

Standard: Sie haben gesagt, dass Sie für gewöhnlich versuchen, vorab nicht schon zu viel zu wissen. In diesem Fall war das wohl anders. Hat das Ihren Zugang verändert?

Philibert: Das stimmt natürlich. Ich hatte vor dreißig Jahren an diesem Film teilgenommen, ich kannte die Leute damals. Ich wollte von Anfang an die unterschiedlichen Materialien - Ausschnitte aus Allios Film, Allios Tagebuch, Interviews etc. - einbauen. Aber ich wusste nicht, ob ich die Leute wiederfinden würde. Ob das, was sie sagen, interessant ist oder nicht. Es gab also immer noch etliche Unbekannte.

Standard: Und was haben Sie gelernt? Auch insofern, als Retour en Normandie ja ein Film übers Filmemachen ist.

Philibert: Dieser Film unterscheidet sich sehr von den vorherigen. Die sind an einem Ort über einen gewissen Zeitraum entstanden: die Schule, die Klinik. Was ich gelernt habe: wie man etwas aus dieser Materialvielfalt baut. Das war eine der Herausforderungen. Ein Film ist ja kein "best of" aller Aufnahmen, die man gemacht hat. Oft muss man im Nachhinein auf Aufnahmen verzichten, die man mit Hingabe gedreht hat, die aber in der Gesamtkonstruktion nicht mehr passen.

Standard: Haben Sie Lust, in diesem Sinn weiter zu machen?

Philibert: Ja, weil ich mit Dingen konfrontiert war, die mir unbekannt waren, die ich schwierig fand. Das war aufregend, ging aber auch an die Substanz. Eine Mischung aus Freiheit und Angreifbarkeit. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.11.2008)