Hunderttausende, ja Millionen von Häftlingen und Zwangsarbeitern, darunter auch tausende spanischer Republikaner, sind Opfer der extremen Gewalt und des Genozids geworden, wie sie in Nazi-Konzentrationslagern wie Mauthausen und in den Vernichtungslagern verübt wurden. Daraus leite ich für unsere Zeit das ab, was ich die "Mauthausen-Konjektur" nennen möchte. Diese Formulierung verweist auf Analogien und Ähnlichkeiten, die zwischen den Gesellschaften der nördlichen Hemisphäre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestanden haben und noch bestehen, Ähnlichkeiten in der Art und Weise, wie Folter, Genozide, Konzentrationslager oder Waffenhandel organisiert werden.

Die Basis des Grauens

Dies sind Fragen, die heute die Nachrichten überschwemmen und Gefahr laufen, alltäglich, um nicht zu sagen trivial, zu werden. Ganz allgemein könnte diese Mutmaßung so formuliert werden: Die Grundlagen der Gesellschaften, die die Gräuel des 20. Jahrhunderts ermöglicht haben - jene Gräuel, die uns mit solchem Entsetzen erfüllen -, sind diesen Gesellschaften selbst gemeinsam; sie bestehen latent im 21. Jahrhundert im Osten wie im Westen fort. Die Herausforderung für uns besteht darin, eine neue und präzise Definition für die Prinzipien zu finden, nach denen Gesellschaften strukturiert werden müssen, um derartige Katastrophen zu verhindern.

Diese Mutmaßung betrifft auch die Grausamkeiten, die begangen werden, um die Demokratie zu "verteidigen", um ihre Justiz durchzusetzen oder um Vergeltung zu üben. Die Ausgangsfrage, die wir uns immer zu stellen haben, könnte also lauten: Worin unterscheiden sich die NS-Lager, die sowjetischen Gulags, die Atombombe in Hiroshima und das Gefängnis von Guantánamo?

Auf den ersten Blick überraschen manche Ähnlichkeiten: Das sind lauter Orte, an denen Menschen entwürdigt, mit weniger Respekt als Tiere behandelt werden. In all diesen Fällen fühlen sich die Gesellschaften, unter deren Schutz und Kontrolle diese Orte stehen, nicht direkt verantwortlich für die dort begangenen Verbrechen. Deshalb ist es von Interesse, ob es Unterschiede gibt zwischen den verschiedenen Tätern, Wärtern, Ideologen, Zulieferern oder Profiteuren der Räume des Grauens, die Millionen von Menschen vernichten oder zu Wracks machen. Wenn es keine Unterschiede gibt, hat vielleicht der russische Dichter und Nobelpreisträger Joseph Brodsky recht, wenn er schreibt, "man müsste die existierende Weltordnung abschaffen und eine neue Zeit verkünden." Wenn wir ihm folgen, ist es Aufgabe der Historiker, die Frage zu beantworten, warum sich diese Gesellschaften ähnlich sind und warum wir sie abschaffen müssen. Sind wir womöglich schon dabei, die Pläne für die Mauthausens der Zukunft zu schmieden?

Partizipation gegen Diktatur

Eine weitere Mutmaßung, die "Guantánamo-Konjektur", bezieht sich darauf, dass die Ähnlichkeiten zwischen den Gesellschaften der nördlichen Hemisphäre vielleicht von der Art und Weise abhängen, wie sie regiert werden. Müssen wir unser Regierungsmodell ändern? Können die neuen Technologien und eine andere Art von Bewusstsein Diktaturen verhindern und die sogenannte partizipatorische Demokratie fördern? Darum geht es bei der "Guantánamo-Konjektur", die man so formulieren könnte: Die Demokratien der Gegenwart sind "Diktaturen" unter dem Deckmantel der politischen Fiktion der Repräsentation.

Diese Fiktion, die wir gegenwärtig erleben, hat das göttliche Recht der Monarchien ersetzt. Die "Sonnenvölker" haben die "Sonnenkönige" abgelöst und sind voll Gier zur Eroberung der fernen Kontinente aufgebrochen. Noch heute stützen sich etwa die Regierungen Großbritanniens, der Vereinigten Staaten, Chinas, Russlands oder Japans auf politische Fiktionen, etwa auf jene, derzufolge die politischen Repräsentanten dem Volk angehören, oder dass durch Wahlen und Volksbefragungen das Volk spricht.

"Gesalbte" Führer

Die Wählerschaft macht man glauben, dass ihre Aufgabe darin besteht, den besten Mann - und manchmal auch die beste Frau - zu wählen, aber tatsächlich handelt es sich um eine viel einfachere Aufgabe: es muss jemand - egal wer - "gesalbt" werden. Denn die Aufeinanderfolge von Regierungen ist keine Formel, um den besten Regierenden zu finden; sie ist eine Formel, um dem einen oder dem anderen Legitimität zu verleihen und damit Konflikten unter den Bürgern vorzubeugen.

Die von Politikern unterstützte Ausplünderung des Staates durch Firmen ist für mich hier nicht von Interesse. Was mich leidenschaftlich interessieren würde, wäre zu klären, ob die Wähler bereit sind, politische Verantwortung zu teilen, die auch Kontrolle über die Privilegien der staatlichen Administration bedeutet, damit nicht zuletzt über den legitimen Einsatz von innerer und von internationaler Gewalt. Ich glaube, dass die Antwort auf diese Frage offensichtlich ist: Natürlich sind sie dazu bereit - aber es hängt davon ab, zu welchem Preis und mit welchem Risiko für ihre persönliche Sicherheit.

Alarmglocken installieren

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Mauthausen diskreditiert Guantánamo die liberalen Demokratien und konfrontiert uns mit der Notwendigkeit, Institutionen zu schaffen, mit denen auf der Basis von anderen, neuen Werten regiert werden kann. Mit dieser Mutmaßung lege ich mein Augenmerk auf das Fehlen von politischer Verantwortung der Wählerschaft.

Es gilt dringend zu vermeiden, dass die Demokratien sich in Diktaturen verwandeln, wie es in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg in Italien, in Deutschland und in Spanien geschehen ist.

Die Herausforderung besteht darin, ein Modell zu entwerfen, das die Zivilgesellschaft stärker involviert; es geht um die "sozialtechnische" Herausforderung, ein System zu schaffen, das rechtzeitig zu diagnostizieren vermag, wenn wir uns einer Katastrophe wie den oben erwähnten nähern. Ich weiß, dass das schwierig ist, weil alle Regierungen danach streben, ihre Schandtaten zu verschweigen und zu verbergen.

Das Ziel der Forschung, die mit dieser Konjektur umrissen werden kann, ist eine Annäherung an eine "realere" Demokratie. Denn meine Hypothese besagt, dass die einzige Alternative eine Vertiefung des demokratischen Systems ist - eine Vertiefung, die alle Bereiche umfasst, die die Persönlichkeit selbst betrifft, die sich im Alltagsleben etabliert. (DER STANDARD, Printausgabe, 26.11.2008)