Felicia Zeller, geboren in Stuttgart-Vaihingen, arbeitet über kommunale Brennpunkte.

Foto: Reinhard Werner

Wien - Der vielleicht beste, weil wahnwitzig welthaltigste Theatertext der Saison - er erfährt seine Erstaufführung am 14. Dezember im Burg-Kasino am Wiener Schwarzenbergplatz (Regie: Tina Lanik) - zerrt unbedankte Heldinnen des Alltags vor den Vorhang. Kaspar Häuser Meer ist das Stück der Stunde: Es handelt von Prävention. Es zeigt auf umwerfend komische Weise, wie gemeinnützige Sozialarbeit die besten Ressourcen derer auffrisst, die sich der Fürsorge widmen und aufgrund akuter Überforderung nach unverbrauchter Luft schnappen. Die immer dann als Krisenfeuerwehr intervenieren, wenn Kinder in Wohnblocks verwahrlosen.

Drei "Jugendamtssozialarbeiterinnen", wie sie die gebürtige Stuttgarterin Felicia Zeller (38) scheinbar völlig mühelos aus dem rhetorischen Ärmel schüttelt, haben sich die Herzen an der sozialen Wirklichkeit irreparabel krank gestoßen. Sie müssen ihre Erwerbsbiografien mit den Erfordernissen eines unklaren Gemeinnutzes abgleichen. Sie sagen, von der Heillosigkeit der Verhältnisse tief erschüttert, Sätze wie diese: "Ja, was soll ich denn unternehmen, ich bin doch kein Unternehmer!"

Sie sind die Dummies eines in Auflösung begriffenen Solidarsystems, das Gemeinschaftlichkeit predigt, um die Spätfolgen des Nestbaus leichter an "diplomierte Fachkräfte" abschieben zu können. Längst sind die "Gebietskörperschaften" in den großen Städten anderen, sehr viel brüchigeren Strukturen gewichen.

Felicia Zeller, deren himmelblauer Blick hinter dem roten Brillengestell völlig undurchdringlich bleibt, wenn sie als gebürtige Stuttgarterin von ihrer neuen Heimat Berlin-Neukölln erzählt, hat das passende kommunale Bild sofort parat. Wieder ist es der Ärmel, aus dem sie Flapsigkeiten wie die folgende schüttelt: "In Neukölln wird der Mist noch aus dem Fenster entladen! Darüber beschwert sich ja auch der Bürgermeister andauernd: Es gibt einfach viele Leute, die noch nicht kapiert haben, dass es bei uns Mülltonnen gibt!"

Frau Zeller wiegelt natürlich ab. Kulturvorbehalte sind nicht ihr Ding: "Ich wohne ja am Rand von Neukölln, bei Karstadt. Je tiefer man in den Bezirk hineinfährt, zu den Türken und Libanesen, desto weniger versteht man auch die Sprache, die da gesprochen wird. Es klingt alles so laut! Man weiß nur nie: Führen die jetzt heftige Debatten? Stoßen die Leute Todesdrohungen aus? Aber wahrscheinlich sind es bloß Liebeserklärungen, die sie da zärtlich austauschen!" Zur Dichterin scheint eben berufen, wer sich am Brennpunkt keine Blasen holt, sondern bloß den Schutz trauter Heimeligkeit verspürt.

Lanze für die Recherche

Zeller, die soeben mit Einsam lehnen am Bekannten (verlegt bei Lilienfeld) eine Sammlung großartig lakonischer Alltagsprosastücke veröffentlicht hat, betrieb eifrig Recherche: "Klar habe ich mich bei Sozialarbeiterinnen umgehört! Da hatte ich zum Beispiel eine Fürsorgerin geschlagene vier Stunden am Hörer - die textete mich unablässig zu, wohl weil sie dachte, sie müsse mich für ihr Anliegen irgendwie einnehmen. Die stand total unter Innendruck!"

Aus den Brocken und Brosamen des spezifischen Fachjargons ist auch Kaspar Häuser Meer luftdicht gezimmert. Aus dem System des gemeindebediensteten Argwohns gibt es ganz bestimmt kein Entrinnen. Drei Sozialpädagoginnen erleben im fliegenden Satzwechsel ihre "ganz persönlichen Messiasspiele". Müssen Kinder bei Erhärtung einer bloßen Verdachtslage den suchtgiftkranken Müttern entreißen. Zeller nennt die Haltung der Beamtinnen in den Anmerkungen zum Stück "Skulpturarbeit" - ein eigentlich rätselhafter Begriff.

Und doch: Heute rennen die bundesdeutschen Sozialarbeiter der erfolgreichen Autorin die Türen ein. Alles bedankt sich herzlich für so viel Einfühlungsvermögen! Frau Zeller wird neuerdings zu Sozialarbeiterkongressen eingeladen. Die Dichterin, die doch bloß einen Schreibauftrag des Theaters Freiburg annahm, weil sie "pleite war", ist zum Idol aller aufrechten Jugendamtsmitarbeiter geworden.

Felicia Zeller sitzt derweil in Neukölln und erlernt Kulturtechniken wie das "Brettern" (Biertrinken). Sie hat eine tolle Sprachpartitur geschrieben. Familienstücke kämen ihr nie in den Sinn. "Kann ich nicht ausstehen! Aber so etwas schreibt ja auch der Brite Edward Bond. Soll der machen!"
Kunststück: Bei Bond fliegen ja auch Steine auf den Kinderwagen. (Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe, 26.11.2008)