Professor Werner de Bondt erhebt heftige Vorwürfe gegen Manager, die mit "krimineller Nachlässigkeit" zu der Krise beigetragen hätten.

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STANDARD: In den vergangenen Wochen sind Politiker und Notenbanker sehr aktiv geworden. Haben sie richtig auf die Krise reagiert?

De Bondt: Im Moment wird weltweit improvisiert, selbst von einem Wirtschaftspolitiker wie dem US-Notenbanker Ben Bernanke, der akademisch sehr versiert ist. Die wirtschaftspolitischen Aktionen, die sie in letzter Zeit gesetzt haben, lassen erkennen, warum die Märkte so nervös sind. Denn keiner weiß mehr, was er zu erwarten hat.

STANDARD: Erleben wir eine "Große Depression" wie in den 1930ern?

De Bondt: Was als Immobilienboom angefangen hatte, wurde zu einer Hypotheken- und Bankenkrise. Jetzt ist es zu einer Rezession geworden. Wir wissen aber nicht, wie tief sie ist, doch im Moment bin ich besonders besorgt über die Arbeitslosigkeit. In der industrialisierten Welt hatten wir eine Krise dieses Ausmaßes in den vergangenen 50 Jahren nicht mehr gesehen.

STANDARD: Wie konnte es überhaupt zu dieser tiefen Krise kommen?

De Bondt: Drei Aspekte sind zentral: einerseits das Verhaltenselement, also die übertriebenen Erwartungen der Marktteilnehmer. Zweitens die Anreize, denn viele Menschen haben mit den irrationalen Erwartungen Geld verdient: Der Bauunternehmer liebte es zu bauen, die Bank liebte es, Hypotheken zu verkaufen, der Investmentbanker liebte es, die Hypothekenpapiere zu verbriefen. Sie alle wurden reich damit, die Blase aufzublähen. Drittens kommt noch eine fehlerhafte Regulierung. In den letzten Jahren war Washington nur ein Beiprodukt der Wall Street. Die Regulierer haben Vorgehensweisen legal gemacht, die einfach unglaublich sind.

STANDARD: So einzigartig sind diese Aspekte der Krise aber nicht.

De Bondt: Jede Krise ist ein wenig anders. Als Ökonom beobachte ich aber gerne die Parallelen. Die zentralen Aspekte sind früheren Krisen überwiegend ähnlich. Viele Menschen sind begeistert von einer Idee, etwa einer technischen Entwicklung wie dem Internet, und springen auf den Zug auf.

STANDARD: Lernen Investoren denn nicht aus der Geschichte?

De Bondt: Nicht besonders. Es gibt viel Evidenz, dass die Menschen nicht lernen. Ich gebe Ihnen ein kurzes Beispiel. Stellen Sie sich vor, Sie sind Personalchef in einem Unternehmen. Sie haben zehn Mitarbeiter angestellt, von denen acht wirklich gute Arbeit leisten, und das ist für Sie eine Bestätigung Ihrer Auswahl. Sie müssen eigentlich auch wissen, wie diejenigen abschneiden, die Sie nicht eingestellt haben. Wenn auf dem Arbeitsmarkt neun von zehn potenziellen Arbeitnehmer gut gewesen wären, ist Ihre Quote eher schlecht.

STANDARD: Aber ganz geht die Realität doch nicht an uns vorüber?

De Bondt: Natürlich lernen wir ein wenig. Das ist aber etwas fundamental anderes als Lernen. Für mich ist interessant, unter welchen Bedingungen wir viel oder wenig lernen.

STANDARD: Wann nehmen wir denn besonders viel aus unseren Erfahrungen mit?

De Bondt: Die Antwort ist Disziplin. Besonders im Wirtschafts- und Finanzbereich. Man braucht einen systematischen, disziplinierten Ansatz, um korrekt einordnen zu können. Investoren etwa müssen quantitativ orientiert sein. Gleichzeitig dürfen sie sich nicht nur an Lehrbüchern orientieren. Denn das menschliche Element sorgt immer für Unberechenbarkeit. Wer ein gutes System hat, das sich bewährt hat, und es diszipliniert anwendet, kann viel besser Neues lernen.

STANDARD: Heutzutage investieren besonders professionelle Investoren wie Banken oder Fonds am Aktienmarkt. Sollten dadurch nicht weniger Blasen entstehen?

De Bondt: Nein, ganz im Gegenteil. Was passiert ist, wurde von Banken und Versicherern rational erklärt. Die Bankenkrise wurde von Profis verursacht, etwa von Mathematikern beim Versicherer AIG. Das waren topqualifizierte Leute. Aber auch sie sind gewissen Wahrnehmungsverzerrungen unterworfen, das zeigt die wissenschaftliche Analyse immer wieder.

STANDARD: Waren die Finanzanalysten in den vergangenen Jahren einfach nur überoptimistisch?

De Bondt: Nur bedingt. Auch dabei geht es um die richtigen Anreize. Analysten wollen in gutem Kontakt mit dem Management sein, das sie im Auge haben, und auch den Handel mit den Produkten ankurbeln. Daher kommt der Überschwang der meisten Analysten.

STANDARD: Kann man den Analysten den Überoptimismus abgewöhnen?

De Bondt: Ich lehre an einer Wirtschaftsuniversität und glaube, dass Bildung einen gewissen Eindruck hinterlässt. Aber ich hege keine überzogenen Erwartungen. Der einzige Weg, etwas zu verändern, ist den Entscheidungsprozess in den Institutionen zu ändern. Statt einzelne Entscheidungen umzukehren, muss man die Prozesse reformieren, um Erfolg zu haben.

STANDARD: Viele Profis, gerade in Europa, haben in der Krise tollpatschig agiert. Kleine deutsche Landesbanken waren etwa massiv am US-Häusermarkt investiert.

De Bondt: Viele Finanzinstitute in Europa wurden vom angelsächsischen Denkmuster beeinflusst. Wahrscheinlich weil die Manager ihre MBAs in den USA gemacht haben. Das Ergebnis ist aber ein Desaster.

STANDARD: Sollten sich europäische Banken neu positionieren?

De Bondt: Eindeutig. Das beste Beispiel ist die Schweizer Großbank UBS. Warum ist die Bank denn nicht bei ihrem Geschäft geblieben, der Privatbank? Die Banker wollten wie die US-Bank Goldman Sachs sein, aber dieses Spiel können sie nicht gewinnen. Meine Meinung ist, dass das ein strategischer Fehler war. An der Spitze der Unternehmen hätte das Management die Probleme verstehen müssen. Da gab es teilweise kriminelle Nachlässigkeit. (Lukas Sustala, DER STANDARD, Printausgabe, 24.11.2008)