Es ist ein harter Tag für alle, die ein iranisches Atomprogramm für schlimm genug gehalten, aber nicht als automatische Folge gesehen haben, dass damit die Non-Proliferation im Nahen Osten im Ganzen ins Rutschen kommen muss. Der durch die US-Invasionen in Afghanistan und im Irak „befreite" regionale Aufsteiger Iran will (zumindest) eine nukleare Waffenkapazität. Als eine der Gefahren in weiterer Folge wurde genannt, dass Israel seine Doktrin der „nuklearen Ambiguität" aufgibt, sich offen zum Atomwaffenstaat erklärt und dadurch andere regionale Mächte wie Ägypten und Saudi-Arabien unter Druck geraten. Aber ein kleines, armes Land wie Syrien?
Zuerst einmal: Es gibt noch kein Urteil über das, was Syrien wirklich in der von Israel im September 2007 zerstörten Anlage getan hat. Aber bei Atomprogrammverdacht gibt es eben keine Unschuldsvermutung. Wenn es kein Reaktor war, dann sollte der Atomwaffensperrvertrag-Unterzeichner Syrien erklären, warum es so aussieht. Zumal der Vorwurf dahin geht, dass es ein Reaktor zum alleinigen Zweck der Plutoniumproduktion war, eine Kopie des nordkoreanischen Reaktors Yongbyon.

Wobei sich Syrien, falls es nuklear „unschuldig" ist, natürlich schwertun wird, andere geheime militärische Programme zuzugeben - bei Syrien denkt man zuerst an Chemiewaffen.
Die politische Ratio hinter einer syrischen Atombombe ist in einem längeren Satz abgehandelt: Ein traditioneller Kandidat für „regime change", mit einem hoffnungslos unterentwickelten Militär, mit einem Nachbarn im Kriegszustand (Israel) und sinkendem Einfluss bei einem anderen (Libanon) plus US-Freunden ringsherum, sucht nach Mitteln der Abschreckung.
Klingt einfach. Da der Diskurs über Atomprogramme jedoch oft viel mehr in der Propaganda als in der Logik angesiedelt ist, sei jetzt einmal die ganze Sache auch von einer technischen Seite her durchgespielt:
Der plutoniumproduzierende Reaktor ist also nicht zerstört, sondern fertiggestellt. Woher nimmt Syrien das angereicherte Uran für seinen Betrieb, woher kommen die Brennstäbe? Es gibt keinen Analysten, der davon ausgeht, dass die Syrer so etwas haben. Also aus Iran? Dauert noch ein bisschen. Nordkorea bricht als möglicher Lieferant gerade weg, außer die USA haben dort wirklich etwas Wichtiges übersehen.

Gut, die Brennstäbe sind geliefert und installiert worden, natürlich alles geheim (ziemlich utopisch: das ist eine Mordsoperation). Der syrische Reaktor produziert Plutonium. Nach ein paar Jahren hat Syrien genügend beisammen für eine Waffe. Und dann?
Dass die Syrer die Waffentechnologie allein schaffen, ist auszuschließen. Sie brauchen Hilfe. Die Iraner können helfen (wenn sie wollen, dazu später), aber nicht in allem, sie gehen ja technologisch den Uran-, nicht den Plutoniumweg. Also Nordkorea. Vielleicht läuft ja dort jemand, gerade bei einem bröckelnden Regime, mit einem Waffendesign zum Verkauf herum. Dieses Design hat zwar in Nordkorea nicht sehr gut funktioniert, aber immerhin.
Syrien hat also jetzt die Waffe. Fehlt noch eine Kleinigkeit, die Rakete für einen Atomsprengkopf, und wenn schon, dann soll es Langstrecke sein. Teheran entdeckt, dass es ganz wenig Lust auf einen arabischen Staat mit Atombewaffnung hat. Die Syrer betteln also in Pjöngjang um Technologie. Wenn sich dort nur nichts verändert, bis sie so weit sind! Aber bis dahin können sich ja wieder andere Pfade aufgetan haben.
Geht doch eigentlich ganz leicht. Man sollte aber auch noch erwähnen, dass inzwischen die syrische Wirtschaft und der Versorgungsstaat zusammengebrochen sind, die Leute hungern. Für das wenige Öl, das sie haben, kriegt Damaskus auch nichts mehr, und die Technologie war ja nicht gratis. Aber passieren kann ihnen nichts mehr, den Syrern. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, Printausgabe, 21.11.2008)