Lieber Herr Faymann!

Ihre gedrückte Stimmung bei unserem Abschied am vergangenen Sonntag ist mir nicht entgangen. Auch ich war sehr betrübt und bin es noch immer. Die zehn Fragen, die ich Ihnen überreichte, sind selbstverständlich nicht auf meinem Mist gewachsen. Sie wurden mir von meinen Parteifreunden aufs Auge gedrückt. In Ihren traurigen Augen aber las ich die Frage, wer diesen Text verbrochen habe, und Ihr Mund nahm lautlos die Form einer Schüssel an. Glauben Sie mir - ich habe die zehn Fragen entschärft, so gut ich konnte.

Ich stimme mit meiner Einschätzung der Lage nach wie vor voll und ganz mit Ihnen überein. Wir hatten die Chance, unsere beiden Parteien zu retten. Dazu hätte aber auch meine Partei begreifen müssen, dass wir nicht nur Ertrinkende sind, sondern auch jeder des anderen Strohhalm.

Zwei Parteien, welche die Gefahr sehen, bei der nächsten Wahl so abzurutschen, dass es schon egal ist, welche voran- und welche hinterherrutscht, zwei Parteien, die wissen, dass sie nur durch einen gemeinsamen Erfolg einen Rest ihrer einstigen Bedeutung retten können und die einander die Bälle zuspielen, weil sie wissen, dass jeder Erfolg dem gemeinsamen Überlebensprojekt zugute kommt, zwei vom Absturz bedrohte Parteien, deren größte Sorge es ist, jeden Gesichtsverlust des anderen zu vermeiden, weil er beiden schadet - es war zu schön, um wahr, vor allem aber zu intelligent, um von meinen Parteifreunden begriffen zu werden.

Zurück zum alten Hickhack

Morgen schon werde ich Sie wieder vorführen, wie es mir meine Partei befiehlt. Sie werden die zehn Fragen beantworten, und wir werden eine Koalition bilden oder auch nicht. Wenn wir sie bilden, werden wir es Ihrer Kompromissbereitschaft verdanken. Ihr Ruf wird sehr zu meinem Bedauern einen Kratzer haben, und meine lieben Parteifreunde werden alles tun, um diesem Kratzer weitere hinzuzufügen. Wir werden in das alte Hickhack hineinrutschen, ich werde im Ministerrat Ihrem traurigen Blick ausweichen, und bei der nächsten Wahl werden wir beide noch schlechter abschneiden.

Oder Sie bleiben standhaft. Ich muss erst darüber nachdenken, ob ich bereit bin, im Falle eines Falles Bundeskanzler einer schwarz-blau-orangen Koalition zu werden und mir die Verachtung aller Österreicher zuzuziehen, die darin eine schwarz-braune Koalition sehen würden. Diese Leute sind, so schwant mir, noch lange nicht ausgestorben.

Lieber Herr Faymann, es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen meinen besten Dank für Ihren guten Willen auszudrücken. Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut. Was dann kommt, Sie wissen schon: Ich habe es nicht gewollt, mir bleibt auch nichts erspart, auch wenn es nicht von mir ist. Ich bin eben auch nur ein Parteisoldat.

Ihr Josef Pröll

(DER STANDARD, Printausgabe, 18.11.2008)