Zur Person:
Andrea Grill, geb. 1975 in Bad Ischl (OÖ) ist promovierte Evolutionsbiologin und Schriftstellerin. Sie lebte unter anderem in Albanien und Bologna, derzeit ist sie wieder in Wien. Im Jahr 2005 erschien von ihr "Der gelbe Onkel" , 2007 "Zweischritt" und im Herbst 2008 "Tränenlachen" (alle im Otto Müller Verlag). Foto: Heribert Corn

Foto: Heribert Corn

Aus Sound of Music sei dieses Lied, einem großartigen Film, ob ich ihn kenne?

Mein Amerika heißt Jane, und ist einmal neun Stunden lang neben mir gesessen, Ellbogen an Ellbogen. Der erste Satz, den ich von ihr gehört habe, lautete "Where are my pills?". Mühsam bahnt sie sich den Weg zu ihrem Platz, obwohl da gar nichts im Weg ist. Hinter ihr geht ein Bub. Er gehört zu ihr, trägt nämlich vier der mir zahllos erscheinenden Papiertaschen und -täschchen, die ebenfalls zu ihr gehören. Nachdem sie einige im Gepäckfach verstaut hat und andere wieder herausgefallen sind, nimmt sie ihm ebenfalls die Taschen ab. Mein Amerika atmet laut, mit offenem Mund. Sie verrichtet Schwerstarbeit. Ein Steward bietet Hilfe an. Sie nennt ihn Darling und lehnt dankend ab. Die Täschchen, die partout nicht oben bleiben wollen, klemmt sie sich unter die Arme. Als Jane neben mir in ihren Sitz sinkt - noch nie habe ich jemanden so vollendet in einen Sitz sinken sehen, als wäre der Ausdruck eigens für Jane erfunden worden -, übersieht sie mich geübt. In einer winzigen Handtasche auf ihrem Schoß findet sie schließlich eine Tablettenschachtel, holt die Packung heraus, drückt zwei davon in die hohle Hand, schluckt sie trocken hinunter. Dann streicht sie dem Buben übers Haar, legt einen Stapel Bücher, Zeichenpapier und Spiele auf seine Oberschenkel und schnallt ihn an. Er lässt alles gelassen über sich ergehen. Während Jane die Tabletten nimmt, rückt er die Brille auf seiner Nase um zwei Millimeter hinauf.

Ich habe mir vorgenommen, mich meinem Sitznachbarn vorzustellen. Egal wer es ist. Neun Stunden lang Ellbogen an Ellbogen zu verbringen wäre wohl an sich schon Grund genug, sich vorstellen zu wollen, ich habe aber einen anderen. Die Maschine, in der wir sitzen, würde von Buenos Aires nach New York City fliegen. Seit geraumer Zeit vermeide ich Flüge. Ab und zu überliste ich mich aber, und buche blitzschnell, bevor ich es selbst richtig merke, heimlich, doch eine Flugreise. Sobald ich am Flughafen in Socken vor einer Sicherheitsbeamtin stehe und darum bettle, meine Zahnpasta mit ins Flugzeug nehmen zu dürfen, wird mir jedes Mal wieder klar, dass ich ungern fliege. Ich sehe Leute mit Katzenkörben auf dem Schoß, Passagiere mit Yorkshire-Terriern an der Leine in der Abflughalle promenieren. Die Zahnpastatube muss draußen bleiben. (Sie fällt in eine große Mülltonne zu hunderten anderen Zahnpastatuben.) Jane nimmt einen Spiegel aus einer anderen Handtasche und wirft sich darin einen mitleidigen Blick zu. Ich muss mich ihr vorstellen, weil es sein könnte, dass wir bald ganz nah nebeneinander sterben werden. Das kann freilich auch an anderen Orten passieren. Nur im Flugzeug aber weiß man schon vorher ganz genau, wen man dann an seiner Seite hätte. Ich habe mir immer gedacht, dass ich gern jemandem die Hand geben würde, wenn ich sterbe, und seltsamerweise auch, dass ich dann gerne wissen würde, wie er heißt. Jane holt eine winzige Zahnpastatube aus ihrer allerwinzigsten Tasche, in der auch die Tabletten sind, wirft die übrigen Taschen auf den Sitz und drängt sich am Buben vorbei, der in einem der auf ihn gehäuften Bücher blättert.

Als sie zurückkommt, stelle ich mich ihr vor. Freut mich, Jane Miller, sagt sie, ich bin sehr nervös. "Fliegen Sie selten?" , frage ich voll Verständnis. "Jede zweite Woche", sagt sie. "Aerolineas Argentinas ist die ärgste Fluglinie von allen." Beim Start schließt sie die Augen. Ihre Lider zucken. Der Bub, den sie mir als ihren Sohn vorgestellt hat, reibt beruhigend ihre Schulter. In einem argentinischen Dorfkino habe ich wenige Tage vorher zufällig einen Dokumentarfilm über Aerolineas gesehen. Wie eine Landebahn zu kurz gebaut wurde und das erste Flugzeug, das zu landen versuchte, im Wald explodierte. Jane ist zart und blond. Sie sei Ärztin, sagt sie, Gynäkologin, deshalb müsse sie ständig auf Kongresse und ständig fliegen. Sie lebe in einem großen Haus in New Jersey. Wenn ich nach New York käme, solle ich sie unbedingt besuchen, ich könne bei ihr wohnen, sagt sie, das Haus sei so groß. Da merkt man gar nicht, ob da einer mehr oder weniger da ist. Ich sage, dass ich diesmal leider bloß sechs Stunden in New York bleibe, danach weiterfliege. Some other time, sagt sie. Auf ihrer Visitenkarte lese ich: Dr. Jane Miller, specialist for in vitro fertilization. Jane singt mir, leise summend, eine Melodie vor. Aus Sound of music sei dieses Lied, einem großartigen Film, ob ich ihn kenne? Sie sei 35-mal in Paris gewesen, fürs Tennisturnier French Open, leider erst ein einziges Mal in Wien. Ein weiterer Lieblingsfilm von ihr ist Heaven Can Wait von Ernst Lubitsch. Auch den kenne ich nicht. Ich müsse ihn mir unbedingt anschauen, ein Must! Jane Miller zückt einen Stift und schreibt "Heaven Can Wait" auf die Rückseite ihrer Visitenkarte. Ich stecke die Karte ein. Man kennt das ja, Amerikaner laden einen immer zu sich nach Hause ein. Ernst meinen sie das natürlich nicht. Auf Amerikaner darf man sich niemals verlassen. Ich würde ihr schreiben und ihr meine Adresse geben, falls sie nach Europa käme. Von Bei-mir-Wohnen sage ich nichts, murmle stattdessen etwas von "small house" , und dass ich ihr die Stadt zeigen würde. Die Stunden vergehen im wahrsten Sinne des Wortes im Fluge. Ab und zu schläft Jane. Ab und zu schlafe ich. Bloß der Sohn scheint immer wachsam durch seine Brille zu blicken.

Der Steward gießt Milch in den Kaffee, als die Maschine zu fallen beginnt. In Sekundenschnelle scheint sie mehrere hundert Meter abzusacken. Schlagartig sind alle wach und schreien. Neben mir schreit Jane Miller. Die Stewardessen schreien auf Spanisch. "No passa nada! No passa nada!" Jemand sagt, das sind bloß Luftsäckchen. Ein Luftsack von der Größe eines Hügels offenbar. Die Maschine fängt sich. Vorsichtshalber schreien alle weiter. Mit einem Ruck sinkt das Flugzeug wieder. Der Kaffee ist überall, nur nicht in der Schale. Jane Miller schreit aus Leibeskräften. "We've hit a cow!" , höre ich aus ihrem Mund, frage mich, ob das ein Ausdruck ist, den Amerikaner benützen, um Entsetzen auszudrücken. Mit einer Kuh zusammenstoßen? Janes Sohn schreit nicht, aufmerksam blickt er um sich. Nur das Buch hat er zugeklappt. Ich bin auch still. "Warum eigentlich?" , denke ich, zwischen den Kuhgedanken, bei dieser Gelegenheit wäre Schreien eindeutig angemessen. Und warum schreit das Kind nicht? Was ist mit uns beiden los, dass wir stumm dasitzen, während das Flugzeug abstürzt?

Der Wagen wartet bereits

Es stürzt nicht ab. Jane Miller entschuldigt sich überschwänglich dafür, dass sie geschrien hat. Bitte, bitte, nicht der Rede wert. Manchmal ist es gut zu schreien. Ich war überzeugt, es ginge uns an den Kragen, Jane wischt sich mit einem Taschentuch den Mund ab. Mit einem anderen wischt sie Kaffee von meiner Hose. "In America" , sagt sie, "this would be impossible. An American pilot would have explained everything." Ich erzähle ihr nun doch von dem Dokumentarfilm aus dem argentinischen Dorfkino, in dem auch gezeigt wurde, welche Drogen die Piloten nehmen, um tagelang ohne Schlaf auszukommen. Ach ja, den Film kennt sie. Den hat sie letztes Jahr mit ihrem Mann gesehen, der aus Argentinien stammt. Jane Miller ist stets für eine Überraschung gut. Sie rät mir, auf jeden Fall ein Taxi nach Manhattan zu nehmen und mit dem Fahrer einen Treffpunkt auszumachen für die Rückfahrt, sonst würde ich womöglich keines finden und meinen Weiterflug versäumen. Sechs Stunden in New York, was kann man sich da anschauen. "Einiges!", sagt sie.

Würde er nachts fahren, verließe ihn seine Frau, erzählt der Taxifahrer. Er habe zwei süße Töchter, das könne er nicht zulassen. Gezwungenermaßen müsse er also tagsüber fahren. Dass ich zum MoMA will, scheint ihn nicht im Geringsten zu überraschen. Sure, sagt er, Museum of Modern Art. Bevor ich aussteige, zeigt er mir die Straßenecke, an der er mich um halb vier abholen wird. Nicht im Traum glaube ich daran, ihn jemals wiederzusehen. Die Stadt ist groß. Das Land ist groß. Wer wird sich da an Abmachungen halten? Ich bin hingerissen von New York. Es mag an der Euphorie liegen, den Flug doch überlebt zu haben, oder am Sauerstoffmangel in der Maschine. Alles erscheint mir wunderbar. Im Museum besuche ich zuallererst das Café. Unverzüglich bekomme ich ein riesiges Glas Wasser serviert, als wäre hier nicht New York im Jänner sondern Athen im August. Viele Cafébesucher essen Eis. Ice-cream sundae. Gut, das nehme ich auch. Der Teller ist mit allerlei Brimborium verziert, der kein Eis ist, aber auch essbar.

Ich sehe die mit Fell überzogene Tasse von Meret Oppenheim, den pelzigen Löffel, den behaarten Teller in der Vitrine hinter Glas; im Raum daneben Vincent van Goghs Starry Night. Besser kann New York nicht mehr werden. Draußen auf einem Platz, vielleicht dem Dach einer Garage, wird eisgelaufen. Ein riesiger Christbaum steht noch irgendwo. Die Leute tragen Mäntel und Anoraks, Atemwolken vor den Mündern, weil es kalt ist, Großmütter warten auf ihre Enkel, die noch fünf Minuten übers Eis schlittern wollen. New York ist eigentlich wie daheim. Um halb vier schlendere ich wie zufällig an der Ecke vorbei, die mir der Taxifahrer gezeigt hat. Der Wagen wartet bereits. Wie es mir gefallen habe, erkundigt er sich. "Fantastic", sage ich.

Nach Monaten finde ich Janes Visitenkarte in der Manteltasche. Schreib mir, wenn du zu Hause ankommst, hatte sie mich beim Abschied gebeten, damit ich deine Adresse habe. Bestimmt, versprach ich, gleich, wenn ich ankomme. Infolge meiner mitteleuropäischen Verlässlichkeit hatte dieses Ankommen fast ein halbes Jahr lang gedauert. Dear Jane, schreibe ich also. Überzeugt davon, nie eine Antwort zu erhalten. Die Antwort kommt innerhalb einer Stunde. Jane ist entzückt von mir zu hören, hat sehr viel Arbeit, ist sehr im Stress, very, very, und wird Mitte Mai nach Paris fliegen, zu den French Open. Ob ich den Film gesehen habe, Heaven Can Wait? Leicht beschämt geht die mitteleuropäische Verlässlichkeit in eine Videothek und lässt sich den Film von Ernst Lubitsch geben. "He believed in love - honor and obey!" - so die Tagline auf dem Umschlag. Der Film ist von 1943. Don Ameche, alias Henry Van Cleve, steht vor dem Eingang zur Hölle und bittet um Einlass, der wird ihm allerdings nicht so ohne weiteres gewährt. Es scheint, dass es ihm an den Qualifikationen mangelt. Pikiert beginnt er dem Teufel aufzuzählen, was er im Laufe seines Lebens alles angestellt hat, insbesondere mit den zahllosen Frauen, denen er begegnet ist, angefangen von seiner Mutter bis zur Gattin Martha, mit der er immerhin fünfundzwanzig Ehejahre zubrachte.

Zitat: Seine Exzellenz (=Satan): "Wenn Sie die Voraussetzungen erfüllen, wird es uns eine Ehre sein, Sie hier unterzubringen. Würden Sie zum Beispiel so freundlich sein, aufzuzählen, welche außerordentlichen Verbrechen Sie begangen haben?"

Henry Van Cleve: "Verbrechen? Ich fürchte, da fällt mir nichts ein. Aber ich kann guten Gewissens behaupten, mein Leben war eine einzige Missetat." (Andrea Grill, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 08./09.09.2008)