Der bulgarische Star-regisseur Dimiter Gotscheff hat genug von Deutschland: "Man missversteht mich. Ich kehre diesem Land den Rücken."

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Dejan Dukovskis Pulverfass-Bewohner sind freigiebige Menschen: Sie heißen Dimitrije, Sveto, Blagoje oder Djore. Sie wohnen in einem mutmaßlich serbischen Landstrich, in dem Biertrinker mit 27 gebrochenen Knochen im Leibe sich zugute halten, immer noch "ficken" zu können wie "Hengste". Der Pferdestall im Berliner Festspielhaus ist in Dimiter Gotscheffs bereits zweiter Inszenierung von Das Pulverfass eine Bühnenschräge. Sie wird von einem Wassergraben umschwappt, dessen Wellengang ein zähes Geflunker auf das Mattholz des Portalbogens wirft.

Dukovskis Stück, ursprünglich 1994 geschrieben, weiß vorgeblich nichts über Srebrenica, über die anhängige Belagerung von Sarajewo, über die EU-Maßnahmen gegen Slobodan Miloševićs Regime. Es hält ein Brennglas auf sieben bürgerkriegsversehrte Männer und Frauen, und diese tun einander schlimmste Dinge an. Der Autor folgt kommentarlos einer Ästhetik fallender Steine: Der Täter der einen Szene stirbt in der nächstfolgenden prompt einen lapidar aus dem Off verkündeten Bühnentod.

Der bulgarische Meisterregisseur Gotscheff schert sich einen sogenannten Dreck um das Spiel wechselnder Bäumchen. Er hetzt seine Schauspielertruppe aus Täter-Opfern atemlos die Schräge hinunter. Mit jedem "Blackout", das auf eine bloß angedeutete Vergewaltigung oder einen Totschlag folgt, pumpt die Sandy Lopicic Band einen ohrenbetäubenden Schwall aus Balkan-Beats auf die - in den ersten Reihen - mit Klarsichtfolie vor drohender Durchnässung geschützte Festspielgesellschaft.

Die Aufnahme von Gotscheffs zweitem Versuch am nämlichen Stück, das von ihm 2000 in Graz beim steirischen herbst vorgestellt worden war, fiel lokal verheerend aus. Bereitwillig legt die Österreicherin Brigitte Fürle, die das Theaterprogramm von spielzeit'europa zum zweiten Mal verantwortet, einschlägige Pressereaktionen vor. Der Generalvorwurf lautet: So brav sich die Schauspieler - darunter Samuel Finzi und Birgit Minichmayr - auch ins Zeug gelegt hätten, das Stück sei politisch unbedarft.

Zum Thema Serbien hätten Zugereiste gefälligst zu schweigen. Die Festplatte der Festivalmacherin droht bereits zu überhitzen: Empörte E-mail-Schreiber machen der Intendantin, die im Programmheft einen linken Dagegen-Denker wie Jürgen Elsässer zu Wort kommen lässt, "fehlende Objektivität" zum Vorwurf. Es ist, mit Blick auf die heikle Intervention der rot-grünen Bundesregierung von 1999, zum Aus-dem-Handke-Fahren.

Aus der Zeit gefallener Stoff?

Dabei ist Gotscheffs Wiederinstrumentierung eines scheinbar aus der Zeit gefallenen Stoffes nichts Geringeres als ein Kleinod. Mit vor Bluthochdruck rotgeschwollenen Köpfen feixen und fletschen einander die Schauspieler an: Sie könnten sich in ihren Penny-Marktklamotten in Aserbeidschan an die Gurgel fahren, oder in einem brennenden Vorort von Paris. Sie stemmen förmlich die Tonnenlasten, die auf sie wirken und sie tollwütig machen. Sie tauschen in fliegendem Wechsel die Herr-und-Knecht-Rollen.

Zärtlichkeit fließt in ihre Gewaltentladungen ein. Und eine stumme Alte (Margit Bendokat) liest im Wassergraben grüne Äpfel in ihre Kittelschürze, die wie in Hagelgewittern aus dem Schnürboden herunterprasseln, um nach gemächlicher Talfahrt in den Graben zu fallen. Mit jedem Vornüberneigen plumpst das Obst zurück ins Nass. Die Menschen in den von aller Zuwendung, von aller Kaufkraft entblößten Weltgegenden entspringen dem unseligen Geschlecht des Sisyphos.

Gotscheff (65), der als Sohn eines Tierarztes seine Adoleszenz in der DDR verbrachte, das Theaterhandwerk bei Benno Besson und Fritz Marquardt erlernte und schließlich dem Geschichtspessimismus Heiner Müllers unrettbar verfiel, stapft am letzten Tag der Berliner Spielserie mürrisch ins Festspielhaus. Sein Haupthaar fällt ihm wie ein Wasserfall vor die Brust, auf der eine Brille baumelt. Gotscheff, der in den letzten Jahren ein Meisterwerk nach dem anderen inszeniert hat, in Bochum, Hamburg und Wien, zuletzt vor allem am Berliner Deutschen Theater, wo er die Kunst der körperlichen Entfesselung zu beklemmender Perfektion entwickelt hat - Got-scheff ist unglücklich.

"Ich habe mich nicht wiederholt, indem ich Das Pulverfass noch einmal inszeniert habe" , brummt er. "Es hat mich einfach das Thema getrieben." Gotscheffs Augen suchen verzweifelt nach einer Gelegenheit zum Rauchen. Keine Chance in einem deutschen Kulturhaus.

"In den letzten Tagen hat ein jugoslawischer Kollege zu mir gesagt: Die Mauer, die im Westen umfiel, ist auf uns gekippt! Dukovski, den ich mit Finzi neu übersetzt habe, zeigt doch nur eine Gesellschaft ohne Zukunft - es liegen nichts als Bruchstücke herum." Gotscheff hat einen Ausgang in der Glaswand erspäht. "Ich ziehe mich erst einmal zurück aus Deutschland. Gehe nach Moskau, Athen, nach Brasilien. Kein Abschied. Aber ich habe es erst einmal satt!" (Ronald Pohl aus Berlin, DER STANDARD/Printausgabe, 04.11.2008)