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Der Wunsch nach persönlicher Geschichte treibt Menschen an, ihren Stammbaum zu erforschen.

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Wien - Neugierde und der Wunsch nach persönlicher Geschichte treibt Menschen heute an, ihren Stammbaum zu erforschen. Elisabeth Timm vom Institut für Europäische Ethnologie recherchierte in über 20 Archiven in Österreich, Deutschland und Israel, um eine Sozialgeschichte und Kulturanthropologie der Ahnenforschung zu erheben.

Hauptanteil von Laien durchgeführt

Das Interesse für Ahnenforschung sei laut Timm im Steigen. "Wer sich heute für seinen Stammbaum interessiert, will Verbindungen und Beziehungen darstellen und ein persönliches Verhältnis zur Geschichte aufbauen." Mehrere kommerzielle Anbieter seien hervorgegangen aus persönlichen Leidenschaften für die Stammbaumforschung. Der Hauptanteil der Ahnenforschung werde jedoch von Laien durchgeführt.

"Sie erlernen ihr Handwerk in mühsamer Arbeit selbst, dazu gehören etwa das Wissen um Kurrentschrift, Kirchenlatein, Archivstrukturen, Quellenkunde oder europäische Geschichte", so die Wiener Ethnologin. Ahnenforscher seien heute jünger als in vergangenen Zeiten, zunehmend würden sich auch Frauen auf die Suche nach Vorfahren begeben. Am Beginn dienten Kirchenbücher als erste Recherchequelle, doch alle denkbaren Informationsträger würden heute bereits als Quellen herangezogen. So stützen sich Genealogen heute auch auf online gestellte Schiffspassagierlisten, die wichtige Dokumente für die Überseemigration vergangener Jahrhunderte bildeten.

Stammbaumforschung des Adels

Nur der Adel betrieb bis ins 19. Jahrhundert Stammbaumforschung, suchte er dadurch doch seine Stellung in der Gesellschaft zu legitimieren. Mit dem Aufstieg des Bürgertums erfolgte ein Boom, der in zahlreichen Städten Vereine für Genealogie entstehen ließ. Ziel der bürgerlichen Forschungen war oft die Feststellung einer Adelsverwandtschaft. Nach 1918 wurden auch ländliche Regionen von der Suche nach der Herkunft ergriffen. Die damit verfolgte Absicht einer stärkeren Bindung der Kleinbauern auf das von ihnen bewirtschaftete Land sei jedoch dadurch nicht erfolgt, so Timm. "Vielmehr zeigte sich eine weit verbreitete Migration der europäischen kleinbäuerlichen Bevölkerung innerhalb der letzten Jahrhunderte."

"Ariernachweis"

Spezielle Bedeutung erhielt die Beschäftigung mit den Ahnen schließlich im Nationalsozialismus, wurde es doch zur Lebensfrage, aus der "arischen Volksgemeinschaft" abzustammen. An den vom Berliner Reichssippenamt ausgestellten "Abstammungsbescheiden" und "Ariernachweisen" - Grundlage für die Ausgrenzung, Deportation und Ermorderung der "Anderen" - hätten sich in den Gaustädten zahlreiche Bürger auch ehrenamtlich beteiligt, bemerkt Timm. Die nach 1945 stark rückgängige Laien-Ahnenforschung hätte erst in den 80er-Jahren wieder Popularität erhalten.

Schnittstellen zur Genetik

Aktuelle Trends der Ahnenforschung sieht Timm einerseits im geänderten Verhältnis zwischen Archiven und Genealogen. "Früher waren Laiengenealogen lästige Sucher, heute sieht man sie als aktive Nutzer, die durch ihre Forschungen dem Archiv auch Nutzen bringen können." Andererseits zeigten sich zunehmend Schnittstellen zur Genetik, da DNA-Analysen herangezogen würden, um Verwandtschaftsbeziehungen und weltweite Verteilung von Verwandtschaft darzustellen.

"Heute haben wir eine entgrenzte Vorstellung von Verwandtschaft", so Timm. Menschen erforschen ihren Stammbaum in beide Richtungen auf der Zeitleiste, finden verstorbene Vorfahren auf und versuchen immer wieder mit den entdeckten lebenden Verwandten in Kontakt zu treten. "Neue Verbindungen entstehen dadurch. Das widerspricht der oft vorgebrachten Behauptung, dass die Familie heute zerfällt. Vielleicht ist das eine Antwort auf die zunehmende Anonymisierung der Gesellschaft", so Timm. (pte/red)