Schulmeister: "Es steht jedem frei, zusätzlich zur staatlichen Pension weitere Zukunftsvorsorgen abzuschließen, ich kann aber keinen Sinn erkennen, das mit öffentlichen Mitteln zu fördern".

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"Man sollte die Notwendigkeit der Krise damit verknüpfen, nachhaltige Maßnahmen umzusetzen". Der renommierte Ökonom Stephan Schulmeister sieht jetzt die Chance, notwendige Adaptionen am österreichischen Sozialstaat vorzunehmen - auch wenn das Geld kostet. An den sozialen Ausgaben zu sparen sei "ökonomisch der größte Unsinn, den man machen kann", so der Experte im Interview mit derStandard.at. Über Gratiskindergärten, verpflichtende Ganztagsschulen, schöne Zähne nur für Reiche und das Märchen von der sozialen Hängematte sprach Schulmeister mit Anita Zielina.

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derStandard.at: Herr Schulmeister, vor mehr als sechs Jahren haben Sie und andere das Volksbegehren "Sozialstaat Österreich" betrieben. Was hat sich seitdem am Sozialstaat Österreich geändert, verschlechtert oder verbessert?

Schulmeister: Zunächst mal hat sich einiges verschlechtert. Wir hatten ja einen Neuauflage von Schwarz-Blau, und die tiefsten Einschnitte in den Sozialstaat sind in Zusammenhang mit der Pensionsreform gemacht worden. Mit der Großen Koalition ist der Prozess des Sozialabbaus im Großen und Ganzen gestoppt worden, allerdings wurden die Verschlechterungen auch nicht rückgängig gemacht. Da könnte die Finanzkrise, wenn sie sich zu dem entwickelt, was ich erwarte, eine günstige Gelegenheit bieten, aus der Not heraus das eine oder andere zu korrigieren. Man sollte die Notwendigkeit der Krise damit verknüpfen, nachhaltige Maßnahmen umzusetzen.

derStandard.at: Sie haben damals im Zuge der Debatte über das Volksbegehren beklagt, dass die vier Hauptsäulen des Sozialstaats - Kranken- und Unfallversicherung, Altersvorsorge, Arbeitslosenversicherung und Bildungswesen - "gezielt geschwächt" würden. Welcher Handlungsbedarf besteht Ihrer Ansicht nach im Bildungssystem?

Schulmeister: Ein Beispiel: Etwa 50 Prozent der Kinder in Wien haben Migrationshintergrund, ein erheblicher Teil davon hat sprachliche Probleme. Die Begleitlehrer, die es früher gab, wurden großteils eingespart. Das war – auch aus unternehmerischer Sicht – eine überaus unkluge Maßnahme. Ein Land wie Österreich kann international nur bestehen, wenn wir uns zu einer wissensbasierten Gesellschaft hin entwickeln. Die Ausweitung der Vorschulerziehung wäre ein weiteres Beispiel, das insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund wichtig wäre. Ein Projektziel, extrem formuliert, könnte sein: Alle Drei- bis Sechsjährigen sollen bis zum Jahr 2010 in einen Kindergarten gehen, zumindest aber das letzte Jahr vor der Schule.

Ein weiterer Punkt: Es ist nicht einsichtig, wieso die gesamte Schulbildung kostenlos ist, aber die Kinderbetreuung so teuer. Das ist eine weitgehend sinnlose Barriere. Ebenso ginge es darum, Ganztagsplätze in den Schulen zum Regelfall zu machen, letzten Endes auch verpflichtend.

derStandard.at: Zum zweiten Thema, der Arbeitslosigkeit: VP-Verhandler Kopf hat kürzlich gefordert, Arbeitslose sollten gemeinnützige Arbeit leisten, die Zumutbarkeitsbestimmungen sollen verschärft werden. Was halten Sie davon?

Schulmeister: Davon halte ich gar nichts. Das ist ja keine neue Idee, die kommt immer wieder. Es ist ein Vorschlag, der typischerweise aus einer Krisensituation heraus entsteht und vom Grundproblem ablenkt. Das Grundproblem der Arbeitslosigkeit lautet nämlich: Es fehlt an Arbeitsplätzen. Und nicht: Die Arbeitslosen sind zu faul und liegen lieber in der sozialen Hängematte. Das mag in Einzelfällen so sein, aber ist nicht der Kern des Problems.

Und ersthaft gedacht: Wenn ein Akademiker dann mit 53 keinen Job mehr kriegt und dann die Hundstrümmerl in den Parkanlagen beseitigen soll, ist das in höchstem Maße entwürdigend und führt eigentlich nur zu einer Verdrängung der "ordentlichen" Parksäuberungspersonen. Das kann es nicht sein.

derStandard.at: Wie steht es um den Bereich des Pensionssystems?

Schulmeister: Ich habe mir dazu seit Jahren fast die Finger wundgeschrieben. Durch die Hintertür der Entfesselung der Finanzmärkte in den letzten 20 Jahren wurden solche Sachzwänge geschaffen, die den Abbau des Sozialstaats als unvermeidlich erschienen ließen. Gerade die aktuelle Krise und die Verluste zeigen, dass es keine gute Idee ist, diesen Märkten die Sicherung der Altersvorsorge teilweise zu überlassen.

Es steht jedem frei, zusätzlich zur staatlichen Pension weitere Zukunftsvorsorgen abzuschließen, ich kann aber keinen Sinn erkennen, das mit öffentlichen Mitteln zu fördern. Hingegen sollte, gerade in der Krise, das sozialstaatliche System gestärkt werden. Es ist für eine stabile Entwicklung unverzichtbar, dass ein gewisses Grundvertrauen der Bürger in das Gemeinwesen besteht. Wenn dieses verlorengeht, gibt es das typische Reaktionsmuster: Rette sich wer kann! Der Vertrauensverlust ist eine wesentliche Komponente einer schweren Wirtschaftskrise und führt zum Verlust des Solidaridätsdenkens. In Wahrheit gräbt damit jeder dem anderen das Wasser ab.

derStandard.at: Was müsste im Gesundheitssystem verändert werden?

Schulmeister: Im Sinne der Verunsicherung der Menschen ist es absolutes Gebot der Stunde, zunächst einmal den Schuldenberg der Krankenkassen abzubauen. Auch wenn sie gar nichts dafür können, wenn sie gewisse Einnahmen vom Staat nicht mehr bekommen – mittelfristig ist es total unfair, dass bestimmte Leistungen nicht bezahlt werden. Etwa Zahnspangen: Das bedeutet, dass Leute, die sozial schwächer gestellt sind, halt mit schiefen Zähnen durch die Welt rennen. Das ist eigentlich ein Skandal, denn der Sinn der Krankenkasse besteht ja darin, dass das Gemeinwesen sich in solidarischer Weise beteiligt. Das selbe gilt für Brillen - was kann jemand dafür, dass er kurzsichtig ist?

derStandard.at: Sie sagten, die Krise kann auch eine Chance auf Verbesserung sein. Es wird aber an vielen Fronten darauf gepocht, dass gerade jetzt gespart werden muss. Bedeutet das, dass notwendigerweise auch am Sozialstaat gespart werden muss?

Schulmeister: Das ist ökonomisch der größte Unsinn, den man machen kann. Gerade in der Krise versuchen die Haushalte ihre Überschüsse zu erhöhen, also mehr zu sparen. Die Unternehmen versuchen ihr Defizit zu reduzieren, sie werden also weniger investieren. Und das Ausland wird versuchen, seinen Saldo zu verbessern. Jetzt muss aber die Summe aller Salden in einer Volkswirtschaft immer gleich Null sein, die Salden sind kommunizierende Gefäße. Wenn alle ihre Salden verbessern wollen, und der Staat versucht, seinen auch zu verbessern oder gleich zu lassen, dann haben wir die Ingredienzien einer katastrophalen Krise. Alle versuchen weniger auszugeben, als sie einnehmen.

Das führt zu katastrophalen spiralförmigen Kontraktionstendenzen nach unten, wie es 1930 durch die verhängnisvolle Sparpolitik vorexerziert wurde. Daraus, so dachte ich, hätte man gelernt – aber offenbar immer noch zu wenig. Es gibt Situationen, wo der Staat mit voller Absicht und voller Kraft versuchen muss, ein höheres Defizit zu machen, um diesen Kontraktionstendenzen entgegegnzusteuern.

derStandard.at: Was das Volksbegehren damals jedenfalls war: der Auslöser einer breiten Debatte über das österreichische Sozialsystem. Fehlt uns diese Debatte heute?

Schulmeister: Nun, das ist wie wenn es brennt, dann schaut man einmal, wie man ganz schnell löschen kann und man hat noch keine Zeit, bedächtig über die Ursachen des Feuers nachzudenken. Aber das wird schon noch kommen. Um wieder die Analogie der Weltwirtschaftskrise zu bemühen: Deren Aufarbeitung hat 10 bis 15 Jahre gedauert. Ich bin da ambivalent. Einerseits wünscht sich niemand, dass eine Krise sich sehr verstärkt, aber andererseit ist es für den Lerneffekt förderlich.

derStandard.at: Was hat das Sozialstaatsvolksbegehren für Sie gebracht, was hat es verändert? Und: Würden Sie es noch einmal machen?

Schulmeister: Es war ein Erfolg, weil es mobilisiert hat. Durch die Kampagne wurden viele Probleme diskutiert, die dem damaligen Zeitgeist nach unter den Teppich gekehrt wurden, nämlich die positiven Dinge, die der Sozialstaat leistet. Was das formale Ziel betrifft, den Sozialstaat ausdrücklich in der Verfassung zu verankern, war es natürlich kein Erfolg.

Ich glaube, dass eine Neuauflage des Volksbegehrens jetzt gar keine so schlechte Idee wäre, weil vor dem Hintergrund der Krise, aber auch der vorangegangenen Schwächungsmaßnahmen des Sozialstaates, der Zuspruch heute möglicherweise deutlich höher wäre. (derStandard.at, 3.11.2008)