Kurt Tucholsky (hier 1928 in Paris): Internetgedicht wird ihm fälschlich zugeschrieben.

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Wien - "Wenn Börsenkurse fallen / regt sich Kummer fast bei allen / aber manche blühen auf: / Ihr Rezept heißt Leerverkauf."

Kurt Tucholsky soll diese Zeilen verfasst haben, schon im Jahr 1930. Als visionäre Lyrik und Beweis dafür, dass Gier ewig ist, flirrt dieses "Höhere Finanzmathematik" überschriebene Gedicht seit Ende September durchs Internet. In E-Mail-Lawinen verbreitet sich der Text als vermeintlicher Beweis, dass schon immer klar war, dass der Kapitalismus vom Bösen ist. Zu schön, um wahr zu sein - der Text beschreibt die aktuelle Krise zwar präzise, stammt aber nicht von Kurt Tucholsky, er kann demnach auch nicht in der Weltbühne veröffentlicht worden sein.

Die deutsche Kurt-Tucholsky-Gesellschaft sah sich bereits genötigt, eine Richtigstellung zu veröffentlichen. Auch wenn sich Tucholsky häufig kapitalismuskritisch geäußert hat, über "Leerverkäufe" und "Derivate" hat er nicht gedichtet, schon gar nicht unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel, das nur für Prosatexte reserviert war, wird auf der Website informiert.

Die Verwalter des Dichter-Nachlasses glauben an eine Verkettung von Missverständnissen in Blogs und Kommentarseiten im Internet. Als Verfasser der in Rede stehenden Krisenlyrik kommt nun der Wiener Richard G. Kerschhofer infrage. Ihm wird das Pseudonym "Pannonicus" zugeordnet, und unter diesem findet sich das Gedicht auf der Homepage der "Gesellschaft für freiheitliches Denken" .

Diese Gesellschaft hat ihren Sitz im dritten Wiener Gemeindebezirk und widmet sich nach eigener Darstellung "dem gesamten Kosmos freiheitlicher Vorstellungen und Denkweisen ohne parteipolitische oder konfessionelle Einengung." Vorsitzender des 1997 gegründeten Vereins ist Ex-FPÖ-Mandatar Gerulf Stix, sein Stellvertreter der Wiener Historiker Lothar Höbelt.

Kerschhofer verbringt seinen Ruhestand in Wien als freier Autor. Er zählt zu den Leserbriefschreibern der Wiener Zeitung, und er publiziert in dem rechten Ideenkreis zugeordneten Schriften, etwa der Zeitbühne.

Dort dichtete er unter anderem zu den Dopingskandalen: "Die Kunst, nach Do und Ping benannt/und drum als Doping weltbekannt/beherrscht man heute souverän/vom Reich der Mitte bis Athen" . Der Financial Times Deutschland richtete der 69-Jährige aus: Tucholsky habe "nicht annähernd so saubere Reime geschrieben wie ich" .

Tucholsky fiel zur freien Wirtschaft ein: "Ihr, in Kellern und in Mansarden,/merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?/mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird? Komme, was da kommen mag./Es kommt der Tag,/da ruft der Arbeitspionier:/Ihr nicht./Aber Wir. Wir." (or / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31.10./1.11./2.11.2008)