Simon Bookish: "Everything/Everything" (Tomlab/Trost 2008)

Coverfoto: Tomlab

Der Mann, der hier auf dem Cover seines dritten Albums nach dem Symbol für Antimon grabscht, nennt sich Simon Bookish - unter seinem eigentlichen Namen Leo Chadburn würde er unweigerlich ins Leere greifen: unter "Lc" gibt's nämlich nix. Und weil sich das Konzept mit den chemischen Elementen - neben einer Reihe anderer Bezüge auf die Wissenschaften - durch das ganze "Everything/Everything" zieht, stellt sich eine alte Frage: Was will uns der Künstler damit sagen? (Ah, die Phrase verstaubt schon so lange in der "Verpönt"-Schublade, dass man sie langsam wieder hervorholen kann - warum sollten Revivals nur MusikerInnen vorbehalten bleiben?)

Vielleicht geht's ja um die elementaren Antriebskräfte des Pop: Liebe und Tod, oder besser: Sex und Tod, obwohl ich nicht die Hand oder sonst ein Körperteil dafür ins Feuer legen würde, wie die Zeilen Young man, you amaze me, show me your sweet DNA oder Run from fear, fun from rear aufzunehmen wären; an Buchstabenspielen hat Leo jedenfalls seine Freude, seine beiden ersten Alben hießen "Unfair/Funfair" (2006) und "Trainwreck/Raincheck" (2007).

Die knödelnde Warnboje

Das mit dem Motiv Tod allerdings ist als gesicherte Information zu betrachten, und zwar - das Bläser-Intro zum ersten Stück "The Flood" demonstriert gleich zu Beginn Leos Hang zum Pathos, von seiner Neil Hannon-artigen Kabarett-Stimme ganz zu schweigen - auf der globalen Ebene. "The Flood" surft auf der Informationssintflut, in "Carbon" gleißt die alles-vernichtende Supernova auf und "Victorinox" könnte ebenso gut "Ragnarök" heißen: Try to ignore the ear pound, try to ignore the drum sound - von wegen, die Bläser sind die wahre Herausforderung, denn die Saxophone - auf "Everything/Everything" in fast jeder gebräuchlichen Subspezies vertreten - quieken hier ohrenbetäubender denn je.

Auf Album 3 hat Leo also endlich seine klassische Ausbildung zum Einsatz eines breiter gestreuten Instrumentariums (speziell alle Sorten von Blechbläsern, dazu eine Harfe) und dem Engagement eines Pulks von GastmusikerInnen getrieben. Bislang war es ja eher Leo, der anderen Hilfestellung gab: vom in mehrfacher Hinsicht verwandten Pop-Extravaganten Patrick Wolf über Grizzly Bear bis hin zu Saint Etienne; dazu kamen dann noch Engagements für Theateraufführungen oder Klanginstallationen. Klassische und elektronische Minimal Music waren von jeher wichtige Einflussquellen für Leo - mit dem aktuellen Album zeigt er sich poppig wie nie und stellt sich in eine Reihe eigenwilliger britischer Maestros von David Bowie bis Thomas Dolby. Und nicht zu vergessen die frühen Roxy Music, an denen sich Leo in ausgschamter Weise orientiert ("Carbon", "A New Sense Of Humour").

"Will I regret the books I never read ...?"

... mal abgesehen davon, dass Leo Chadburn mit Sicherheit nicht zu denen gehört, die zu wenig lesen - verblüffend ist schon, wie jemand, der vom eigenen Mittelalter noch ein gutes Stück entfernt ist, die diversen beschworenen Weltuntergänge und Rettet-etwas-solange-ihr-noch-könnt-Aufrufe immer wieder mit dem Gedanken ans eigene Älterwerden verschmilzt, sich zu melancholischem Pianogeklimper When will I have plastic surgery? frägt und aus dem Hintergrund You need it! zuzischen lässt. Aber Alter entspricht eben nicht unbedingt nur der Summe der Lebensjahre, sondern eher dem, wie man sie angelegt bzw. mit Aktivitäten vollgestopft hat. Und Leo Chadburn war - ähnlich Björk, Patrick Wolf oder, aktuelles Beispiel, Derek Meins - eher kein Teenager-wie-wir sie-kennen. Da kann das Ego schon in frühen Jahren die schönsten und seltsamsten Blüten treiben.

"Everything/Everything" ist, milde ausgedrückt, eine reichlich exzentrische Platte und nicht nur darin  großartig. Über Geschmäcker und Bewertungen lässt sich bekanntlich trefflich streiten, aber ist auf Tomlab eigentlich schon jemals eine Platte erschienen, die man unoriginell nennen könnte? Mir fällt keine ein, und auch das ist definitiv keine geworden. (Josefson)