Poesie in nüchternem Umfeld: Fernand Melgars Dokumentarfilm "La Forteresse" beschreibt ein Asylzentrum.

Foto: Viennale

Wie eine Trutzburg steht das Gebäude am Fuß des Waadtländer Jura da. Es ist Winter, es ist kalt, und durch das Tal weht ein giftiger Wind. Eines Nachts fährt ein Armenier in einem Lastwagen vor, erhält am Eingang ein paar Toilettartikel und trifft im Schlafraum auf einen Kommilitonen, der wie er Russisch spricht. Später kommt eine Gruppe angeheiterter Afrikaner aus dem Dorf und wird von der Nachtwache gestellt: Der Konsum von Alkohol ist strengstens verboten. Willkommen im Empfangszentrum für Asylsuchende im schweizerischen Vallorbe!

Während 60 Tagen hat der Schweizer Dokumentarfilmer Fernand Melgar den Alltag im Auffang- und Selektionszentrum mit der Kamera eingefangen. Der Zeitraum entspricht der Frist, innerhalb derer nach verschärftem Schweizer Recht entschieden werden muss, ob jemand als Flüchtling anerkannt oder abgelehnt wird. Im einen Fall folgt die Überführung in ein weiteres Zentrum, im andern die Ausweisung. In ebenso berührender wie metaphorischer Form gibt Melgar diesem Ort der Unsicherheit, des Wartens und der Angst ein filmisches Gesicht: La Forteresse heißt "Die Festung" und erinnert an das Bild vom "vollen Boot", mit dem die Schweizer Regierung im Zweiten Weltkrieg ihre unmenschliche Flüchtlingspolitik rechtfertigte.

Anders als viele filmische Zeugnisse zuvor, die ihren Blick in guter, aber vielleicht auch naiver Absicht auf die Asylsuchenden allein richteten, interessiert sich der Dokumentarfilmregisseur neben den Flüchtlingen auch für ihre Betreuerinnen und Betreuer. So lernen wir nicht nur Menschen unterschiedlicher Herkunft, religiöser Zugehörigkeit und Hautfarbe kennen, die angetrieben von Hoffnungslosigkeit und Elend in ihrer Heimat auf ein besseres Leben in der Schweiz hoffen; wir erleben auch die Sozialarbeiter, Juristen und Geistliche, die mit ihnen fernab der Zivilisation in einem Hochsicherheitsbunker das Schicksal teilen; menschlich engagiert, kräftemäßig bis an ihre Grenzen gefordert - und sich ihrer Verantwortung bewusst.

Dies wird vor allem in den Szenen deutlich, in denen die Insassen ihre Fluchtgeschichte zu Protokoll geben. Wie die Beamten, die ihnen aufmerksam zuhören, Unstimmigkeiten mit früheren Versionen ansprechen und Zweifel äußern, erleben wir als Zuschauer ein Wechselbad der Gefühle: Dürfen wir der vorgetragenen Geschichte Glauben schenken? Wurde sie wirklich erlebt, oder ist die Erzählung aus stereotypen Versatzstücken zusammengesetzt, dank deren man sich eine größere Chance auf Aufnahme erhofft?

Die große Stärke von Melgars Films besteht nicht nur darin, dass er die Fälle offen und damit einem mündigen Publikum zur eigenen Einschätzung überlässt; das Konzept, den "Huis Clos" aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, wird auch der Komplexität der Situation gerecht. Dank einer exzellenten Kameraarbeit (Camille Cottagnoud), die selbst in der nüchternen Realität noch Momente der Poesie entdeckt - etwa wenn im Neuschnee auf dem Fußballfeld auf einmal ein kindlicher Schneemann lacht -, haftet La Forteresse mehr eine sanft hoffnungsvolle denn eine depressive Stimmung an. Selten hat man einen so fairen, humanen und schönen Dokumentarfilm gesehen. (Nicole Hess, SPEZIAL - DER STANDARD/Printausgabe, 25./26.10.2008)