Im Solo nicht allein: Anouk Froideveaux in einer Arbeit Bogomor Doringers.

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Wien - Boris Charmatz ist einer der wichtigsten französischen Choreografen überhaupt. Bereits mit 19 begann der heute 35-Jährige seine Karriere und stieg in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre zu einem der führenden Vertreter der neuen europäischen Choreografie auf. Und das, obwohl er im damals tonangebenden konzeptuellen Tanz immer als Außenseiter gesehen wurde.

Im Rahmen der Programminsel "Quick Change" zeigte Charmatz in der Halle G des Tanzquartier Wien sein konzises Duett Otomo, ein Destillat aus seinem Stück Con forts fleuve, das ihm 1999 seinen endgültigen Durchbruch brachte. In Wien war der Künstler wiederholt zu Gast - bei ImPulsTanz, den Festwochen, Wien Modern und im Tanzquartier. Dort wird er im kommenden Februar unter dem Titel Island: From a Piece ... ein eigenes Programmformat kuratieren, bevor er die künstlerische Leitung des renommierten Centre Choréographique de Rennes übernimmt.

Der Otomo ist nun eine Widmung an den japanischen Musiker Otomo Yoshihide, der, 1959 in Yokohama geboren, zu einem der profiliertesten Experimentalmusiker der 90er avancierte. Er schrieb auch den wilden Sound für Con forts fleuve, in dem ein DJ eine Hauptrolle spielte. Otomo zeigt ein Stimmungsbild aus diesem unheimlichen und geheimnisvollen Gruppenstück.

Charmatz selbst tanzt zusammen mit dem Tänzer Christophe Yves mit in Hosen gehüllten Köpfen einen erratischen Kampf, in dem der Choreograf nach beinahe zehn Jahren auf die Gespenster seiner eigenen Werkbiografie trifft. Und ein Jahrzehnt ist in der Zeitrechnung des progressiven Tanzes eine kleine Ewigkeit.

Dem gegenüber steht in den Tanzquartier Studios eine Videoinstallation des in Belgrad geborenen und jetzt in Amsterdam arbeitenden Künstlers Bogomir Doringer: Deranged (zu sehen noch Freitag und Samstag, 12.00 bis 19.00).

Die im Kontext der avancierten Reflexion von Mode stehende, interaktive Arbeit zeigt eine nach Butô-Art weiß geschminkte Tänzerin (Anouk Froideveaux), die sich zu den elektronischen Sounds von Natasa Bogojevic bewegt. Sie macht ein Solo, aber dabei bleibt sie nicht allein: Mit ihr tanzt eine bilderschreddernde Videomaschine und darin besonders ihr schwarzes Kopfhaar, das in geisterhafter Transformation wie ein Alien um ihren Körper schwebt, kriecht, wächst und wieder schrumpft.

Die puppenhafte Tänzerin ist ein Geist aus der Maschine, und ihre "Puppenspieler" - Bogomir Doringer, der Kameramann Ben Geraerts und der Choreograf Andreas Kuck - speisen mit ihr eine Kleist'sche Marionetten-Poesie in den bewegungssensorbestückten Video-Automaten ein. Froideveaux erinnert dabei an eine derangierte Gliederfrau, die sich im virtuellen Weißraum wie im Albtraum in die Dynamik ihres Haars verstrickt: ver- und entrückt wie der DJ bei Charmatz, sphärisch wie Björk in einem Clip von Chris Cunningham und mit einer an Matthew Barney erinnernden fatalen Schönheit.

Diesen Gespenstern entgegen stand in der Halle G, auf Charmatz' Otomo folgend, eine Anti-Fashion-Show des österreichischen Choreografen Chris Haring mit der Künstlerin Jakob Lena Knebel von dem Label "house of the very island's royal club division middlesex but the question is where are you, now" . Unter dem Titel Mode française wurde das morbide Gespenst der Mode-Performancemaschine ausgetrieben - mit Knebels voluminösem Körper, der das genaue Gegenteil der gängigen Modelkonfektion darstellt.

Im dieser so choreografischen wie bildnerischen Arbeit erzählte Anti-Catwalkerin Knebel von ihrer Verwandlung in eine intersexuelle Zeitgenossin und persiflierte Posen aus der Modefotografie. Als Stimme aus dem Off spielte Haring die Rolle des Choreografen, Regisseurs und Stütze der Performerin.

Das Ergebnis war eine ebenso charmante wie konsequente Absage an die perversen Normkonstruktionen von frauenschänderischen Couture-Kreateuren mit Jakob Lena Knebel als fantastisch unmittelbarem Publikumsliebling. (Helmut Ploebst / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24.10.2008)