Thomas Meinecke: "Mich interessiert ja auch nicht Kirche als moralisch einwandfreier Betrieb, sondern das Martin-Scorsese-hafte, die Kirche als Verein mit teilweise durchgeknallten Denkmodellen."

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STANDARD: Von der Feminismus- und Genderproblematik, die Ihre bisherigen, von Popkultur, philosophischen und soziologischen Traktaten und Zitaten durchtränkten Romane kennzeichnet, sind Sie nun zum Christentum gekommen. Was ist da schiefgelaufen?

Meinecke: Die Thematik des Religiösen habe ich immer schon gehabt, es kam nur aus unzuverlässigen Windrichtungen. Über Andy Warhol beispielsweise, der jeden Morgen in die Kirche ging. Seine Beschwörung der berühmten Brillo-Box, einer Waschmitteltrommel, die 1964 einfach so zum Kunstwerk erklärt wurde, in das man als Betrachter alles reinlesen kann, was man will - und dass da so eine Art Wesensverwandlung stattfindet, das hat man ja im Christentum auch bei der Hostie: Das ist der Leib Christi! Das finde ich zeichentheoretisch wahnsinnig interessant. Das wird sonst nur in Pop-Szenarien beschworen.

STANDARD: Verschränken Sie deshalb das Thema des Glaubens mit US-Gegenkultur der 1960er-Jahre?

Meinecke: Wenn ich mir jetzt bei meinem ewigen Hauptthema, den Schwulen, überlege, wie dort damals Kulte in deren Privatwohnungen stattfanden, wo Altäre für drittklassige Hollywood-Schauspielerinnen errichtet wurden, kombiniert damit, dass diese Frauen ja nicht erotisch begehrt wurden, sondern dass da an etwas geglaubt wurde, was sie ikonenhaft verkörpern, das finde ich toll! Diese Trash-Elemente zwischen Religiosität und Pop. Insofern bin ich mit meinem neuen Buch ja kein Zeuge Jehovas, sondern ein Fragen stellender Typ in einem Terrain, in dem ich mich als dezidiert nicht frommer Mensch bewege: Martin Scorsese, Herbert Achternbusch, ihre blasphemischen Jesus-Filme, deretwegen sie aus dem katholischen System ja nicht entlassen, sondern nur angefeindet werden. Ich bin zwar katholisch aufgewachsen, wurde aber nicht mit Kirchgängen drangsaliert. Ich kann das Feld also spielerisch von außen abscannen.

STANDARD: Im Gegensatz zu Achternbusch handelt es sich bei Ihren theologischen Exkursen aber doch um eine fröhliche Wissenschaft. Die Beschäftigung mit skurrilen Elaboraten der katholischen Mystik dringt nicht unbedingt zum Kern der Theologie vor, liest sich aber auch aufgrund einer bildungsbürgerlich altertümelnden Sprache lustig.

Meinecke: Wahrscheinlich ist das einfach eine neue Form meines Nerdtums. Mir wird ja oft vorgeworfen, dass in meinen Büchern alle Protagonisten immer so gute Laune hätten. Mit dem Verweis auf Nietzsche kann ich leben. Es gibt aber in Jungfrau natürlich auch so eine Amour-fou-hafte Leidensebene, die dann ganz gut zu der Erscheinung der Bräute Christi im Hochmittelalter und anderer unmöglicher Liebespaare passt, die ja auch durch die Religion unmöglich gemacht wurden. Es geht um das Sichenthalten, um das Sichversagen. Für manche Leute wird das dann leichter lesbar, weil man zwischen all den hausgroßen Steinbrocken der Theologie, die im Buch herumstehen, den Flow einer Boy-meets-Girl-Geschichte hat.

STANDARD: Zur minimalen Rahmenhandlung: Ein Theaterwissenschafter namens Lothar wechselt ins Studienfach der Theologie. Er verlässt seine Freundin und setzt sich erstmalig seiner Sexualität aus. Er beschließt, enthaltsam zu leben. Motto: "Wir tun ja nicht nichts, sondern wir tun Dinge nicht." Was passiert dann?

Meinecke: Mich beschäftigt vor allem, was da sprachlich geschieht. Welche Grammatik steht mir zur Verfügung? Wo clasht die Grammatik mit dem Denkbaren? Es geht um die Idee, dass Liebe nur eine asymptotische Annäherung von zwei Kurven ist, die sich im Unendlichen treffen. Ein religiöses Motiv der irdisch nicht möglichen Liebe. Metaphysisch wird mehr überhöht als erklärt.

STANDARD: Kann man insofern die Bibel als sexualisierte Schrift lesen?

Meinecke: Vielleicht wurde sie bis ins Hochmittelalter so rezipiert. Die Bräute Christi liefen damals ja auch mit der Vorhaut Jesu als Ehering rum. Man kann das aber auch als präsexuelle Lektüre bezeichnen. Es gibt feministische Arbeiten, wo diskutiert wird, ob unter dem Lendentuch Jesu eine Erektion zu finden sei. Sexualorgane waren im Mittelalter noch gar nicht definiert. Insofern bin ich auch jetzt wieder im Theorie-Kinderzimmer angelangt und kann an meinen Themen weiter rumschrauben.

STANDARD: Die Banken krachen, der böse Kapitalismus ist tatsächlich böse. Man nimmt also wieder moralische, christliche Positionen ein?

Meinecke: Das wird passieren. Das interessiert mich aber gar nicht so sehr. Die moralische Positionierung ist ja eher eine protestantische. Ich bin aber am Katholischen dran. Da ist mehr Soul und Wahnsinn zu verzeichnen und weniger fundamentalistische Positionen. Es geht um produktive Widersprüche wie das Konzept von Sünde und Vergebung. Mein Interesse am Glauben führt eher in schwule Wohnungen in der Lower East Side als in politisch rechte Gebiete. Querness und Katholizismus, das passt nicht ins Bild der Reaktion.

STANDARD: Zuletzt untersuchten Sie für den Suhrkamp-Sammelband "Ratzinger-Funktion" dessen feministische Deutung von Kirche.

Meinecke: Ja, Kardinal Ratzingers katholische Sicht von Kirche als etwas Weiblichem, dem Männer dienen. Als nicht-männliche Wesen. Da gibt es interessante Thesen. Und als Papst wird er ja heute auch nicht anders darüber denken. Ich lese das alles mit großem Interesse. Auch über die Rolle schwuler Männer in der Kirche. Es heißt jetzt, sie sollen sich zwar nicht sexuell betätigen, aber sie können für sich ein homosexuelles Begehren akzeptieren. Das ist ein Gleichziehen mit der heterosexuellen Priesterschaft, falls es die gibt.

STANDARD: Sie leben in der bayerischen Provinz. Dort kennen Sie keine heterosexuellen Priester?

Meinecke: Doch, das schon. Und die sind nicht alle evangelisch! Mich interessiert ja auch nicht die Kirche als moralisch einwandfreier Betrieb, sondern das Martin-Scorsese-hafte, die Kirche als menschlicher Verein mit teilweise durchgeknallten Denkmodellen und Dogmen. Nicht die Auflösung des Christentums ins Sozialdemokratische ist interessant, sondern die unbefleckte Empfängnis!

STANDARD: Schuld und Sühne sind zwei der ältesten Themen im Pop, und auch die von der Kirche abgeschaute Inszenierung.

Meinecke: Genau. Selbst im schwulsten Houseclub ist Sonntag früh um fünf dann plötzlich Kirche. Da wird in Sodom und Gomorrha Gospel aufgelegt. Selbst die agnostischste Popinszenierung baut auf Liturgie. Und natürlich auf: Boy meets "girl" . Es geht um das Verhandeln der Geschlechterpositionen und deren Überschreitung. Sexuelle Identität ist reine Verhandlungssache.

STANDARD: Beruht der Welterfolg des Katholischen auf Verzeihen?

Meinecke: Ja. Die Hölle ist leer, der Teufel dreht Däumchen.

(Christian Schachinger, DER STANDARD/Printausgabe, 22.10.2008)