Foto: Martin Prinz

Martin Prinz war fünf Monate unterwegs. In seinem Alpenblog kann seine Wanderung nachverfolgt werden.

Foto: Martin Prinz

Als am letzten Tag der Reise, an einem Sonntag Mitte September, das Meer unter mir auftauchte, hatte ich zwei Gehstunden bereits hinter mir, doch war es auf meiner Etappe von Peillon nach Monte Carlo immer noch Morgen. Die Luft war warm, längst nicht mehr nebelfrisch wie im Weggehen, und in den Bergen standen Wolken, während über dem Meer der Himmel blau strahlte. Ich war stehengeblieben, blickte die schmale Straße hinunter, die kurvenlos und immer steiler abfallend direkt ins Meer zu führen schien; ein nicht mehr junger Hobbysportler hob auf einem nahen Parkplatz sein funkelnagelneu blitzendes Rennrad vom BMW-SUV. Und ich stand da, sah die letzten 500 Höhenmeter Richtung Mittelmeer hinunter und sah in ein Blau, das mir gerade in seiner Weite vom Ende meiner Reise erzählte, fotografierte es, pflückte mir wie so oft in den letzten Tagen eine Handvoll der wasserlosen, süßen Brombeeren und ging mit dem Wort Meereshöhe im Kopf zwischen Villengärten und bellenden Hunden die Straße nach La Turbie hinunter, wo eine Abordnung des Club Alpin Monégasque auf mich warten sollte.

Wenig später kamen mir dann die Läufer entgegen. Zuerst vereinzelt, doch mehr und mehr, je näher ich der hoch über der monegassischen Bucht gelegenen Ortschaft kam. Alle trugen sie Startnummern, waren in ihrer betonten Lockerheit aber noch so unverschwitzt, dass selbst einem Menschen ohne jegliche Sportkenntnis sofort klar gewesen wäre, dass der Start erst bevorstand. Ich hingegen spürte auf der Stelle meine alten Rennläuferinstinkte wieder: eine jede Faser anstachelnde Spannung und Lust, den Rucksack einfach abzusetzen, die Bergschuhe gegen leichte Wettkampfschuhe auszutauschen und es mit all den Kilo- und Höhenmetern in den Beinen den Sonntagssportlern gehörig zu zeigen. Gleichzeitig aber signalisierte mir eine andere, mindestens ebenso deutliche Körperstimme größten Unwillen, auch nur einen Augenblick gemeinsame Sache mit den trotz ihrer knappen bunten Trikots jeglicher Leichtigkeit entbehrenden Gestalten zu machen. Lächerlich kamen mir ihre nach Muskelöl riechenden Beine, ihr unverkennbarer Ehrgeiz und ihre ernsten Gesichter vor. Und ihre Bewegungen klein, viel zu klein.

Zwei Stunden später stand ich bereits vor den ersten Ampeln und Zebrastreifen Monte Carlos. Und gelangte mithilfe von Rolltreppen, Marmorstiegen und Liften Stockwerk um Stockwerk tiefer in dieser weit in den Hang gewachsenen Stadt Richtung Meer. Von den beiden Adlern aber, die während des Abstiegs von La Turbie und dem seit der Römerzeit hoch aufragenden Trophée des Alpes gekreist waren, war zwischen den Hochhäusern nichts mehr zu sehen. Doch das ist nur eine Annahme, denn ich hatte auch nicht mehr nach ihnen geschaut. Während ich auf den Kehren der sand-schottrigen Flanke des Tête de Chien alle paar Meter stehen geblieben war, um ihr Fliegen mitzuverfolgen. Eine Bewegung, die am Flügelschlag selbst kaum erkennbar war, während die Luft, in der diese Tiere buchstäblich ihre Bahnen zogen, einem so fest vorkam wie nie zuvor. Manchmal war es - auf umgekehrte Weise zwar, doch ähnlich - so auch im Gehen über all die Berge gewesen. Und die An- und Abstiege waren mir, nicht nur im schnell abgespulten Rückblick, sondern unter meinen eigenen Füßen, so voller Bewegung wie Wellen erschienen. Augenblicksweise, doch darin derart deutlich, dass ich dann mit jeder Faser meines Körpers zwischen Hut, Rucksack und Weg gewusst hatte, dass nicht ich es war, der hier noch ging, sondern die Tage, die Täler und Berge in all ihren unübersehbaren Momenten nun mit mir unterwegs waren, während ich meine Schritte höchstens noch zu setzen hatte, um in diesem Meer da und dorthin zu steuern.

Unterdessen ermahnte mich Robert Gstalder vom monegassischen Alpenverein immer wieder, mehr auf den Verkehr zu achten und lieber die Gehsteige anstatt die Straßenränder zu benutzen, während er von den in seiner Kindheit am Place du Palais gestohlenen Kanonenkugeln, Klettereien über dem Hafen oder dem Schwimmtraining auf den Bahnen des damals noch völlig verdreckten Hafenpools erzählte. Immer mehr Leute des Club Alpin stießen zu uns, Erinnerungsfotos wurden gemacht, und spätestens als es während des Mittagessens an der Zeit war, sich in das Livre d'Or der Via Alpina einzuschreiben, in dem es seit 2002 erst sechs oder sieben Einträge gab, begann das Ende dieser Reise langsam ins Bewusstsein zu sickern. Zumindest jenes Teils, der von den eigenen Beinen abhing, vom Tragen des Rucksacks, vom Halt der Schuhsohlen und Stockspitzen, trockener Kleidung, Sonnenschutz, Essen und Trinken. Alles andere hingegen wartet noch darauf, sich erst richtig in Bewegung zu setzen. Auf einer Route in jenes Gelände dieser Reise, in dem keine Landkarten, Wegbeschreibungen oder Höhendiagramme weiterführen. Und manchmal nicht einmal die Erinnerung, zumindest nicht die bewusste, da die entscheidenden Abzweigungen oft gerade im Übersehenen, im Vergessenen verborgen liegen. - Wie etwa jener Augenblick, in dem die auf der letzten Etappe vor der Ankunft so intensiv, doch gleichzeitig unerzählbar stumm erlebte Menschenleere im Hinterland Monacos plötzlich doch in einem Erlebnis auftauchte. Jetzt, Wochen danach, im Schreiben dieser Geschichte, während mir beim Mittagessen mit dem Club Alpin Monégasque nicht und nicht eingefallen war, wie ich von der zwischen Sospel, Peille und Peillon erlebten Verlassenheit einer Landschaft erzählen könnte, deren Olivenanbauflächen genauso wenig mehr gebraucht wurden, wie sich auch Touristen kaum noch für diese dem Meer und den Seealpen doch gleichermaßen nahe Region interessierten, in der es zwischen Sospel und Monte Carlo nur mehr ein einziges, kleines Hotel gab.

Hundepension

So klar mir aber gewesen war, wie wenig jede genaue, fakten- und kenntnisreiche Beschreibung diesen unbewirtschafteten Tälern und jeglicher Infrastruktur beraubten Orten gerecht wurde, so deutlich wurde mir ihre Leere nun allein im Bellen der Hunde - nicht in jenem Bellen zwischen den Villen von La Turbie, zumindest nicht allein, sondern in dem vom Vortag, kurz nach der Abzweigung vom alten Maultiertreiberweg nach Pas D'Ongrand, als ich mich aufgrund eines richtigen Hundebellkonzerts nach einer Siedlung umschaute, in der es tatsächlich so viele Hunde gäbe, während ich doch nur an einem Weiler vorbeigekommen war, in dem mehr verlassene, verfallene Steinhäuser als bewohnte standen. Bis ich nach einer Kurve des Fahrwegs auf eine Vielzahl geräumiger, fast luxuriöser Hundezwinger blickte. Hunde, deren urlaubende oder geschäftsreisende Besitzer dort zu Hause waren, wo am nächsten Tag das Meer unter mir auftauchte. Das Mittelmeer, das dann so blau war und so weit, dass ich auf dem Weg vorbei an den in den Villengärten bellenden Hunden nur an das Ende meiner Reise dachte, an die Berge, an die Beine und an das Wort Meereshöhe.(Martin Prinz/DER STANDARD/Rondo/17.10.2008)