Bild nicht mehr verfügbar.

Was in Hidalgo als Inszenierung für Touristen veranstaltet wird, ist für tausende Mexikaner Realität. Was bleibt ist die Erinnerung an zu Hause - und der gelegentliche Kontakt mit der Heimat, wie hier, wo ein Mexikaner einem mexikanischen US-Bürger ein Stückchen Tortilla durch den Grenzzaun reicht.

Foto: AP/Guillermo Arias

Bild nicht mehr verfügbar.

Für Menschen wie Delfino Ramirez, 19, der hier auf seinen Rücktransport durch die US-Grenzbehörde wartet, ist Flucht in die Staaten kein Spass. Ramirez leidet an Kinderlähmung und hat den Anschluss an seine Gruppe verloren, mit der er gemeinsam die Grenze illegal überqueren wollte.

Foto: AP/DARIO LOPEZ-MILLS
Grafik: DER STANDARD

Drüben ankommen, das ist das Ziel. Den Hunger, die Kälte und den Durst vergessen. Geduckt weiterlaufen, durchhalten. Ich reihe mich ein in die Gruppe von Schatten, die am Rande eines Feldes durch die Nacht laufen, stolpere über Ackerfurchen, sehe nur Schemen um mich herum - gehetzte Gestalten, den Umriss des nahen Waldes und dahinter die eben noch azurblaue Silhouette der Berge.

Unser "pollero", der Schlepper, der uns über die Grenze bringen soll, brüllt durch seine Wollmaske hindurch. Schneller! Beeilt euch! Ein Lichtschein taucht auf, diffus kriecht er über die nahe Hügelkuppe und wird schnell zu zwei klar definierten Scheinwerfern. La migra! Die Grenzpolizei! Hektisch folge ich meinem Vordermann, sehe nur noch seinen Rücken, stürze ihm hinterher einen steilen Erdhang hinunter, und wir kauern uns am Ufer des Grenzflusses mit den anderen unter einem Baum zusammen. Bewegungslos sitzen wir dort. Vielleicht nicht ganz bewegungslos, jemand zündet sich eine Zigarette an, und die Studenten aus Pachuca tuscheln wie bei einer Nachtwanderung im Schullandheim. Oben auf der Straße kreist das Licht des Polizeiwagens - rot, weiß, blau. Es ertönt ein blechernes Warnsignal. Ob sie wissen, dass wir hier sind?

Anzunehmen, aber wir spielen mit, haben schließlich Eintritt bezahlt für diesen Nervenkitzel, 32 Armutsflüchtlinge ohne Armut. Geduckt laufen wir weiter, die Frauen zuerst, unter dem feindlichen Licht hindurch, in ein nahes Gestrüpp hinein. Dieses ständige Ducken. Ist das die Körperhaltung der Unerwünschten, die man hier erfährt? Man ahnt, wie sich etwas in der Seele festsetzt: Du bist nicht erwünscht. Nicht erwünscht. Man bekommt nur eine Ahnung.

Es ist eine Selbstinszenierung, die hier in El Alberto stattfindet, einem Dorf keine zwei Autostunden nördlich von Mexiko-Stadt - und rund 1200 Kilometer von der echten Grenze zu den USA entfernt. Eine Gemeinde inszeniert ihre eigenen Erfahrungen. Mehrmals in der Woche ist ein Team von 25 Dorfbewohnern damit beschäftigt, Touristen einen hautnahen Eindruck von den Strapazen einer illegalen Grenzüberquerung in die USA zu vermitteln. Bei der rund vierstündigen Flucht durch die Nacht wird niemand geschont, es geht querfeldein durch Flussbetten und Kakteenwälder, über Hügel und Felder.

Verwöhnte Städter

Und doch ist diese "caminata nocturna" im Vergleich zur Wirklichkeit nicht mehr als ein Weichspülprogramm für verwöhnte Städter, für Leute aus Pachuca, Querétaro, Mexiko-Stadt, die etwas Abenteuer suchen und dann mit dreckiger Hose und einem Kaktusstachel im Finger wieder nach Hause fahren und von einem Abenteuer erzählen können. Die echte Grenze ist ein Friedhof: Rund 500 Menschen sterben jährlich, die meisten von ihnen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren. Verdurstet, ertrunken, erfroren. Dazu kommen diejenigen, deren Körper gar nicht gefunden wurden. Später in der Nacht sind sie wieder da, vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht zwei Stunden. Zwanzig Meter und ein Dickicht trennen uns von zwei Englisch sprechenden Beamten in Camouflage. Äste brechen die Lichtkegel ihrer Taschenlampen und werfen lange Schatten auf den Boden. Warnschüsse fallen. Eine Stimme verspricht warmes Essen - Tamales und Tortillas. "Geben Sie auf, wir bringen Sie zurück nach Mexiko, denken Sie an Ihre Familien."

Für die Leute von El Alberto lag der große Nachbar im Norden nie in unerreichbarer Ferne. Man brauchte nur die paar Kilometer bis ins nahe Ixmiquilpan zurückzulegen und von dort der Carretera Federal 85 zu folgen, der ältesten Straße, die von Mexiko-Stadt über Monterrey bis zur geteilten Grenzstadt Nuevo Laredo führt. Wer an der 85 wohnt, hat schon immer die Geschichten vom Norden gehört, die mit den Reisenden kamen und gingen.

Fast jeder Mann in El Alberto ist selbst drüben gewesen, al otro lado, wo man für viel Arbeit viel Geld verdient. Summen, von denen man hier in El Alberto nur träumen kann. Juventino Augustín García war gerade 15 Jahre alt, als er das erste Mal die Grenze überquerte. 15.000 Pesos, knapp 1000 Euro, musste er einem pollero zahlen, um bei Nuevo Laredo mit einem Schlauchboot über den Río Bravo gebracht zu werden. Fünfmal war er seither illegal auf der anderen Seite, in Texas, Arizona und Nevada, hat auf Baustellen gearbeitet, für doppelte Schichten und am Wochenende, damit es sich lohnt, saß drei Monate im Gefängnis, wurde von einem pollero um 1300 Euro betrogen und wäre einmal beinahe in der Wüste verdurstet - für vier Tage hatte er vier Liter Wasser dabei.

Er erzählt all das ganz ohne Selbstmitleid, es ist die Biografie eines 22-Jährigen in El Alberto. "Manche gehen schon mit 14 Jahren", sagt er. "Die sehen die Autos, Häuser und Freundinnen von denen, die in den USA waren, und brechen die Schule ab." Juventino hat jetzt einen Job in seinem Heimatdorf, er arbeitet als Kellner für Touristen, die herkommen, um Flüchtling zu spielen. Dass er noch einmal die Grenze überqueren wird, schließt er nicht aus.

Wichtige Einnahmequelle

Die Region nördlich von Mexiko-Stadt ist arm, Arbeit gibt es kaum, wer weiterkommen will, geht fort. Ganze Dörfer sind zur Hälfte entvölkert, man trifft nur noch Frauen, Alte und Kinder auf der Straße. Die Männer überweisen Geld mit Western Union. 2006 flossen insgesamt 24 Milliarden US-Dollar über die Grenze nach Mexiko - etwa doppelt so viel, wie das Land jährlich durch Tourismus erwirtschaftet. Manche der Migranten kommen nie zurück, gründen eine neue Familie in der Fremde. Die US-Regierung geht davon aus, dass der hispanische Bevölkerungsanteil - aus Mexiko und anderen Ländern Lateinamerikas - bis 2050 auf beinahe ein Viertel der Bevölkerung ansteigen wird. Die Reaktion darauf ist ein Zaun, der rund 1100 der 3200 Kilometer langen Grenze absperren soll, vor allem dort, wo in der Vergangenheit besonders viel los war. "Die Leute kommen trotzdem rüber", sagt Juventino. "Die polleros und Drogenschmuggler haben längst Tunnel gebaut."

In El Alberto hat sich in den vergangenen Jahren viel bewegt. Gab es hier vorher nur etwas Viehzucht, den traditionellen Anbau von Mais und Bohnen und handwerkliche Agavenverarbeitung, so setzt die - wenn vollzählig - rund 2000 Einwohner zählende Otomí-Gemeinde zunehmend auf Tourismus. Es begann 1983, als heiße Quellen auf dem Gemeindeland für Badegäste zugänglich gemacht wurden. Mit der Zeit entstanden ein Schwimmbad, ein Zeltplatz, ein Restaurant. Die Gesetze änderten sich, die Otomí-Sprache wurde wieder als Unterrichtssprache eingeführt, und es floss Geld von der Regierung für indigene Projekte. Ein Tourismuskonzept wurde erarbeitet und gemeinschaftlich umgesetzt. "Jeder im Dorf muss ein Jahr lang der Gemeinschaft dienen, es ist wie ein Sozialdienst ohne Bezahlung", erklärt Dorfvorsteher Bernardino Martín Bautista. "Auch wer in den USA lebt, muss dafür zurückkommen." Es ist das indianische Prinzip des unentgeltlichen Ehrenamtes, das auch grenzübergreifend Zusammenhalt garantiert. "Wir wollen hier vor Ort bessere Bedingungen schaffen, damit die jungen Leute nicht mehr in die USA gehen müssen", sagt Bautista, der selbst zehn Jahre lang illegal hin- und hergereist ist. Seit vor drei Jahren zum ersten Mal Besucher über die fiktive Grenze am örtlichen Río Tula geführt wurden, hat sich der Erlebnistourismus zu einer wichtigen Einnahmequelle für die Gemeinde entwickelt. Eine makellose Asphaltstraße führt seit kurzem nach El Alberto und signalisiert: Hier tut sich etwas.

Es ist bereits nach Mitternacht, als plötzlich zwei Geländewagen der Grenzpolizei angerast kommen. Wir verstecken uns hinter einer Böschung, doch sieben Nachzügler werden gefasst. Unsanft werden sie auf die Ladefläche eines Pick-ups gestoßen, beschimpft und in abtransportiert. Die Studenten aus Pachuca haben sichtlich Spaß an der Vorstellung. Moment, wo bin ich hier eigentlich? Ist das alles nicht eine vollkommen geschmacklose Inszenierung? Ein Live-Rollenspiel für Stadtneurotiker? Vielleicht. Vielleicht irritiert auch nur die Aufrichtigkeit, mit der die Leute von El Alberto ihre Schicksale hier zur Schau stellen. Wir versammeln uns auf einer Hügelkuppe, der pollero beglückwünscht uns zu unserem Erfolg, ohne sich die Maske vom Gesicht zu ziehen. Anscheinend habe ich es auf die andere Seite geschafft, fahre mit meinen Mitflüchtlingen zum Restaurant, um heiße Tamales zu essen und eine Tasse dampfenden Café de olla mit Zimt zu trinken - und das elende Flüchtlingsleben zu vergessen. (Mirco Lomoth/DER STANDARD/Rondo/17.10.2008)