Fliegenfischer tragen gerne ganze Werkzeugkistchen am Körper, immer mit dabei ist auch eine Auswahl an Fliegen, man weiß ja nie, worauf die Fische gerade Appetit haben.

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Fliegenfischlehrlinge in Wathosen mit Garry Pierce im Red Deer River: Mehr auf das Feeling als auf Muskelkraft kommt es dabei an.

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Man muss es wenigstens ein Mal gesehen haben: wie sich Garry Pierce seinem Fluss nähert. Muss es gesehen haben, um eine Vorstellung zu kriegen, welche Ausmaße eine Leidenschaft annehmen kann. Gebückt und auf leisen Sohlen, wie ein Indianer auf der Pirsch, schleicht sich Garry ans Ufer heran. Mit dem Unterschied, dass er in der Linken keinen Tomahawk hält, sondern eine Angelrute. "Big fishes over there!", ruft er aufgeregt und zeigt an eine Stelle, wo das ungeübte Auge im dunkelgrünen Wasser weder Stein noch Untergrund und schon gar nicht die Umrisse eines Lebewesens ausmachen kann.

Aber sie sind da: In den Abendstunden an diesem Spätsommertag springen die Fische hoch am Red Deer River in Alberta. In Garrys gebückter Haltung drückt sich Respekt aus, vor dem Fisch und dessen Mahlzeit, der Fliege - und was beide ihm bedeuten: so ziemlich alles auf der Welt.

"Fliegenfischer sind Jäger", sagt er. Garrys Revier, das ist der Red Deer River in Alberta, Kanada, 300 Kilometer nördlich von Calgary. Wer über den Highway hierherkommt, der sieht die Rocky Mountains, Hauptattraktion des Bundesstaates, im Westen nur aus der Ferne. Rund zwei Fahrstunden sind sie von Red Deer, der Stadt, die vom Fluss den Namen hat, entfernt. Weiße Bergspitzen blitzen von Weitem herüber: Der erste Schnee kam früh heuer.

Am Wasser springen die Fische an diesem Abend hoch. In Wathosen und monsterähnlichen Stiefeln stapfen die ambitionierten Fliegenfischlehrlinge vorsichtigen Schrittes über die Steine, bemüht, es Garry nachzumachen und keinen unnötigen Laut zu verursachen.

Red Deer war einst Revier der Schwarzfußindianer und gehört heute mit 86.000 Einwohnern zu den am schnellsten wachsenden Städten in Kanada. Der Boom kam mit dem Erdöl, über das Kanada reichlich verfügt. Der steigende Ölpreis macht die energieaufwändige und von Umweltschützern verteufelte Verwertung des Ölsandes rentabel und verhilft Alberta zu neuem Reichtum.

Als Garry hier aufwuchs, war Red Deer noch ein Kaff. Mit seinem Vater ging er fischen, seinen erlernten Beruf als Bauingenieur gab er bald auf und betreibt seither mit seiner Frau Connie Fliegenfisch-Guiding: "Tailwater drifters".

Die ersten Würfe der Schüler geraten noch unsicher. Vor allem, weil die Forellen am Red Deer River nicht irgendwelche Forellen sind. "Sie sind sehr wählerisch", bringt es Gerry auf den Punkt. Das heißt: Die Fliege muss punktgenau über deren Nase landen, um Interesse zu wecken. Anders als in unseren Breiten, wo jedes Jahr im Frühling gezüchteter Nachwuchs in den Bächen eingesetzt wird, bleiben die Forellen im Red Deer River ganzjährig in ihrer natürlichen Umgebung. Der hiesige Angler hat seine Beute gern auf dem Tisch und hält es für besonders archaisch, sie selbst zu verzehren.

"Ein Fliegenfischer würde niemals einen Fisch töten", formuliert Gerry den Verhaltenskodex. "Falls doch, er dürfte nie mehr mit mir kommen." Catch and release, fangen und zurücksetzen, lautet die Regel, das geht bei Gerry so weit, dass er den Widerhaken, an dem die künstliche Fliege befestigt ist, mit einer Klammer glattpresst. Das Fangen wird dadurch nicht einfacher, aber wenn man der Forelle diesen Haken entfernt, blutet sie nicht einmal. Und angeblich hat der Fisch nach zehn Minuten sein Trauma schon wieder vergessen.

Und wozu dann das Ganze, mögen Laien fragen. Da ist einmal die Bewegung: Das mit dem Arm sparsam eingesetzte kurze Schleudermoment aus Ellbogen- und Handgelenk, drei- bis viermal angesetzt und schließlich abgesenkt, verlangt höchste Konzentration und gehört in seiner Exaktheit, Eleganz, Leichtigkeit und Reduziertheit zum Effizientesten, was ein Körper an Ursache und Wirkung hervorbringen kann. Auf Muskelkraft kommt es nicht an, mehr aufs Gespür. Und dann das Feeling.

 

Gelbe Maifliege

An einem Fluss, dessen Oberfläche immer dunkler und dunkler wird, senkt sich der Abend, der Himmel färbt sich mit Wolkenbändern rot-schwarz, und plötzlich heben in der Ferne die Kojoten zum Geheul an. Dazu gesellen sich schnatternde Gänsescharen, die aus den Feldern steigen und ans Wasser zum Übernachten kommen. Noch Fragen?

Aber was für eine Enttäuschung: Fische wollen heute keine beißen. Nach fünf Würfen weiß Gerry: "Sie haben ihren Diätplan geändert." Das passiere, und dann pfeifen die klugen Fische auf die hübschen Fliegenmodelle. Was auf jeden ambitionierten Fliegenfischschüler frustrierend wirkt: Denn rundherum platscht es unablässig, wenn wieder ein Fisch sich eine Fliege geschnappt hat, so gierig greifen die Flossenträger zu.

Garry greift in eine seiner zehn Plastikboxen, die er in den vielen Taschen seines hellbraunen Gilets stecken hat. Fliegenfischer tragen gerne ganze Werkzeugkisten am eigenen Körper, man weiß ja nie, was passiert und was man wann braucht. Käscher, Nagelzwicker zum Kappen, Zangen, Schnurrollen, ein Stück Schaffell zum Zwischenparken von Fliegen und natürlich eine nicht zu knappe Auswahl an Fliegen - all das muss griffbereit sein.

"Der Fluss sagt mir, welche Fliege ich verwenden muss", erklärt Garry. Wie er das sagt, lässt sich auf seinem Gesicht ein Exemplar nieder, er lässt sie langsam weiterkrabbeln. Das Insekt verweilt auf seiner rechten Backe, als hätte es einen Seelenverwandten gefunden, schmiegt sich um Garrys Mund. Er greift danach, schaut die Fliege prüfend an: "Gelbe Maifliege", lautet die Diagnose. 16 verschiedene Maifliegen, rund zehn Steinfliegen und sechs verschiedene Arten Köcherfliegen gibt es am Fluss. Alle in unterschiedlichen Entwicklungsstadien, als Nymphen, Nass- und Trockenfliegen.

Sie täuschend echt nachzubauen ist Garrys zweite Leidenschaft. Im Keller sammelt er Rohmaterial wie Echthaarperücken, Felle und Wollschals vom Secondhandshop. Blumendraht hortet er in den buntesten Farben. Fische in den Rockies stehen auf Gerrys Heuschrecken. Er bastelt sie aus Elchhaar. Fünf Minuten braucht er dafür am Bindestock und sitzt bis spät in die Nacht, weil die ungeübten Gäste wieder einige verschlissen haben.

Das Wetter ist extrem und wechselhaft in der Prärie Albertas. "Wenn du das Wetter in Red Deer nicht magst, warte fünf Minuten ab", scherzt Connie. Sie kommt eigentlich auch Sasketchewan, Garry lehrte sie das Fischen, und mittlerweile wirft sie fast so gut und genau wie er. Und kocht obendrein fantastische Elkburger.

Während es im Sommer hochofenheiß werden kann, sinkt im Winter die Temperatur auf minus 50 Grad. Zu kalt für die Fische, weshalb Gerry seine Touren Kilometer weiter nach Süden verlegt: Im Winter schippert er mit dem Boot im Golf von Mexiko, drei Stunden südlich von Cancun.

Guiding total bietet Garry, Überstunden inklusive. Denn solange noch irgendein Fisch beißt, geht er nicht heim. Im Juli kann das bis ein Uhr Nacht dauern. Im September ist schon um neun Uhr Schluss, weil sich die Fische dann wegen der niedrigeren Wassertemperatur zurückziehen und nicht mehr ums Essen scheren. Noch kürzer ist der Fischtag in den Rockies, im Spätsommer regt sich schon um vier Uhr Nachmittag nichts mehr am Wasser.

Durch die unwegsame Wildnis gelangen die Gäste per Hubschrauber oder - Gerrys ganzer Stolz - ausrangiertem, aber voll funktionstüchtigem Amphibienfahrzeug, gebaut in Kanada, Baujahr 1950. Damit tuckert er über Stock und Stein und steuert entlegene Fangstellen am North Ram River an. Im türkisblauen Gebirgswasser inmitten endloser Nadelwälder sind die Fische weniger zimperlich, und so kommen auch die Lehrlinge zu den ersten Fangfotos. "Good girl", lobt Garry großzügig.

Der Red Deer River gibt erst zwei Tage später eine stattliche, circa 50 Zentimeter große Forelle und auch hier nur dem Meister höchstpersönlich frei. An dem Vormittag ist das übrigens die einzige im Umkreis, die sich zum Sprung überwinden konnte, was Garrys Leistung und Freude ziemlich erhöhte. Connie sackt den Burschen mit dem Käscher ein. Posieren fürs Foto, Haken raus und Fisch zurück ins Wasser. "Bis zum Tag, an dem ich tot in den Fluss falle", will er es so halten. Anders wäre es auch schwer vorstellbar. (Doris Prieschnig/DER STANDARD/Rondo/17.10.2008)