Ostrog wurde vor mehr als 350 Jahren auf gut 900 Metern Höhe in den Fels gebaut.

Schon am Vormittag sammeln sich Pilger auf Matratzen in den Säulengängen.

Erste Anlaufstelle nach dem Aufstieg sind die Trinkbrunnen.

In der Votivkapelle klebt zentimeterdick Ruß an den Wänden. Hunderte Kerzen brennen in den Sandbecken.

Dieser Teil des Klosters ist deutlich jünger: Er wurde erst 1926 fertiggestellt. Hier befinden sich Schlafräume für die Pilger.

Bis in den frühen Nachmittag füllt sich der gesamte Platz vor dem Kloster mit Decken und Matratzen - die Pilger bereiten sich auf eine Nacht "ganz nahe" ihrem Heiligen vor.

Alle Wege führen bergauf. Für flache Weiten hat man in Montenegro wenig Platz gelassen. Der kleine Balkanstaat kompensiert fehlende Größe mit Höhe: Die Hälfte der Landesoberfläche liegt über 1000 Meter. Burgruinen? Am Berg. Nationaldenkmäler? Immer hoch oben. Klöster? Natürlich auf einsamen Gipfel zu finden.

Auf einer Nebenstraße zwischen Niksic und Danilovgrad herrscht an Wochenenden daher Hochbetrieb. Vom klapprigen Zastava bis zum modernen Reisebus schiebt sich alles den schmalen Asphaltstreifen hoch, der sich in ausgesetzten Kurven den Hang entlangwindet. Ein Weg, ein Ziel: Das Felsenkloster Ostrog.

Ob als "religiöses Gravitationszentrum", "spektakulärste Sakralanlage" oder "wichtigster Wallfahrtsort" - kein Reiseführer lässt Ostrog unerwähnt, schon allein, weil das Kloster "den westeuropäischen Besucher einen tiefen Einblick in die spirituelle Lebenswelt der einheimischen Bevölkerung gewährt." Ein Pflichtbesuch also, nicht nur für Einheimische.

Montenegros Mariazell?

Vielleicht könnte man es das "Mariazell Montenegros" nennen, doch der Vergleich hinkt nicht nur aufgrund architektonischer Details. Ostrog ist keine schmucke Basilika, es wurde auf gut 900 Metern Seehöhe grob in den Fels gearbeitet. In Mariazell wird ein Mariengnadenbild verehrt, Ostrog ist gar die letzte Ruhestätte des Sveti Vasilije, einem Heiligen der serbisch-orthodoxen Kirche.

Der Weg nach oben ist mühsam. Und eintönig. Außer den drei Hochdruckrohren eines Wasserkraftwerks, die sich auf halber Strecke über die Straße spannen, gibt es nicht viel zu bestaunen. Wie aus dem Nichts tauchen dann gut besuchte Straßenrestaurants auf, Holzbuden, in denen Honig und getrocknete Feigen feilgeboten werden, stehen am Wegrand. Es sind die konsumistischen Vorboten der Klosteranlage.

Ostrog wurde Mitte des 17. Jahrhunderts vom heiligen Vasilije gegründet. Zahlreiche Wundertaten werden ihm nachgesagt. Er starb 1671 - sein Leichnam soll sich seither kaum verändert, ein Verwesungsprozess nie eingesetzt haben. Vasilijes Reliquien, die im Kloster aufbewahrt werden, schreibt man heilende Kräfte zu.

Vermutliches Versteck

Vor etwa drei Jahren kam das Kloster in die internationalen Schlagzeilen - allerdings nicht wegen Vasilijes Wundertaten, sondern als mögliches Versteck des ehemaligen Führers der bosnischen Serben und mutmaßlichen Kriegsverbrechers Radovan Karadzic.

Die Klosterleitung wies diesen Vorwurf jedoch zurück. Der Metropolit der serbisch-orthodoxen Kirche in Montenegro, Amfilohije (Radovic), der bis dahin als Karadzic' Verbündeter galt, forderte ihn öffentlich auf, sich zu stellen: "Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich nach Den Haag gehen."  Karadzic wurde am 21. Juli 2008 in Belgrad verhaftet, am 30. Juli wurde er dem internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert. In Ostrog konzentriert man sich wieder auf den Heiligen Vasilije.

Die Klosteranlage erstreckt sich über gut 200 Höhenmeter. Donji Ostrog, der untere Teil, gilt als Basislager für die Pilger und als Versorgungszentrum für den oberen Teil, das Kloster im Fels: Gornji Ostrog. Zwischen einem Restaurant, mehreren Souvenirgeschäften und einer Kirche wird geparkt. Freie Plätze sind rar. Belgrad, Kragujevac, Nis - Ein Blick auf die Nummerntafeln verrät: Die meisten Besucher kommen aus dem benachbarten Serbien.

Kloster-Camping

Aus den Autos und Bussen schälen sich Pilger mit schwerem Gepäck: Taschen werden geschultert, Koffer über die Steintreppen gehievt, Trolleys nachgezogen. Offensichtlich stehen längere Aufenthalte am Programm: In Ostrog wird campiert. Schon am Vormittag haben die ersten im Säulengang des Klosters ihre Matratzenlager aufgeschlagen. "Das ist ein sehr heiliger Ort für uns, wir möchten möglichst viel Zeit hier verbringen. Deswegen bleiben wir über Nacht", erklärt eine junge Frau in gebrochenem Englisch.

Davor gilt es allerdings, den Höhenunterschied zu überwinden. Das bedeutet gut eine Stunde Fußmarsch durch einen bewaldeten Hang. Zum Teil hat man Steintreppen angelegt, um den Aufstieg zu erleichtern. Immer wieder kreuzt eine Straße den Pilgerpfad: In engen Serpentinen kämpft sich Auto um Auto nach oben. Der Asphalt glänzt in der Sonne. Nur Alte und Kranke nehmen das Privileg in Anspruch, bis vor die Klostertore zu fahren.

Bedächtig ziehen die Pilgerkarawanen den Berg hinauf. Angeregtes Plaudern weicht mit zunehmender Höhe einem angestrengten Keuchen. Die Hitze drückt. Röcke werden gerafft, Sakkos gelüftet. Viele kommen in ihrer besten Sonntagstracht, einige wenige sind auch in Jogginghosen unterwegs. Aufgeregt hopsen zwei Mädchen in weißen Rüschenkleidern und mit Blumenkränzen im Haar auf den Steinstufen umher. Ihre Mutter versucht, Schritt zu halten. Über der gepuderten Oberlippe sammeln sich Schweißperlen. Sie kämpft mit ihren hohen Absätzen auf dem groben Untergrund. Viele haben sich ihrer Schuhe gleich entledigt und wandern barfuss oder in Strümpfen - nicht weil es einfacher ist, sondern weil man dem Heiligen Vasilje damit besonderen Respekt zollen will.

Erste Station: Trinkbrunnen

Erstes Ziel in der Klosteranlage sind die Trinkbrunnen. Während die Pilger ihren Durst stillen, lassen sie Münzen in die Steinbecken fallen. Das Wasser ist schließlich heilig. Viele Serbische Dinar liegen neben deutlich weniger Euro und Cents, die seit 2001 auch die offizielle Währung in Montenegro sind (davor waren es D-Mark). Auf dem Platz vor dem Kloster herrscht rege Geschäftigkeit. Vorfreude liegt in der Luft. Eine Handvoll Souvenirhändler bietet Devotionalien aller Art feil: Sveti Vasilije wandert in Form von Bildern, Postkarten und Wandkalendern in die Hand- und Hosentaschen glücklicher Gläubiger.

Auch Kerzen und Wasser stehen hoch im Kurs: Die kleinen Flaschen mit dem Konterfei des heiligen Vasilije werden in Waschtrögen angekarrt, bündelweise wandern Kerzen über die Tresen des Klostershops. Aus der Votivkapelle ein paar Meter weiter wabert der Geruch von schmelzendem Bienenwachs und Ruß.

Durch ein Steintor gelangt man zum eigentlichen Kloster. Fotografieren ist ab jetzt verboten, Telefonieren auch. Pilgerinnen legen Plastiksäcke mit Brot und Öl in einen Weidenkorb vor den Klostertüren: Spenden für die Mönche, die hier leben. Dann rücken sie die Tücher zurecht, die sie sich um den Kopf geschlungen haben - kaum eine Frau wagt sich unbedeckten Hauptes in das Heilige Gemäuer - und reihen sich in die lange Schlange vor einer winzigen Tür.

Heilige Reliquien

Dahinter sind die sterblichen Überreste des heiligen Vasilije aufgebahrt. Vor dem offenen Sarg wacht, ganz in schwarz gehüllt, ein orthodoxer Priester mit langem Bart und grimmigem Blick. Stille. Kaum fünf Leute haben in Vasilijes letzter Ruhestätte Platz. Düster ist es hier, nur ein wenig Kerzenlicht flackert in dem in Fels gehauenen Raum. Intensiver Weihrauchgeruch steigt in die Nase. Von Vasilije ist nicht viel zu erkennen, sein toter Körper ist in ein rotes Samttuch gehüllt, die Stickereien darauf funkeln im schwachen Licht.

Langsam rückt Pilger um Pilger vor, um das Holzkreuz in der Hand des Priesters zu küssen, sich danach ehrfürchtig über Vasilijes Leichnam zu beugen und auch das rote Leichentuch mit den Lippen zu berühren. Opfergroschen fallen in eine Schale, dann tappen die Pilger vorsichtig rückwärts ins Freie, um dem Heiligen nur ja nicht den Rücken zu kehren. Danach haben sie kaum mehr Augen für die gut 350 Jahre alten Fresken in der Heilig-Kreuz-Kirche oder den jahrhundertealten Weinstock, der auf der Klosterterrasse aus der Felswand wächst.

Der Platz vor dem Kloster ist mittlerweile fast voll: Der Matratzenfundus von Ostrog leert sich. Matte um Matte legen die Pilger fein säuberlich nebeneinander auf, um nicht unnötig Platz zu verbrauchen. Darauf sortieren sie ihre Habseligkeiten, stapeln Decken. Auf gut 900 Metern kann es im Herbst frisch werden. Manche haben einen weiten Fußmarsch hinter sich, die meisten kommen aber vom Parkplatz bei Donji Ostrog. Jetzt bereiten sie sich auf die Zeit vor, die sie gemeinsam bei einem der wichtigsten Heiligtümer des Landes verbringen werden.

Die Sonne ist verschwunden, dunkle Wolken ziehen auf. Keine guten Voraussetzungen für eine Nacht im Freien. Die Pilger stört das nicht. Sie bleiben. (Nicole Bojar, derStandard.at, 13.10.2008)