Klaus Poier, Verfechter eines minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts, suchte im Parlament nach Verbündeten

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Wien - Einmal angenommen, am 28. September hätte eines jener Wahlrechtsmodelle gegolten, die der Grazer Politikwissenschafter Klaus Poier seit etlichen Jahren mit Beharrlichkeit in die Diskussion einbringt: Die SPÖ hätte dann (statt tatsächlich 57) 91 oder 93 Mandate - je nachdem, wie minderheitenfreundlich man ein Mehrheitswahlrecht ausgestaltet.

Die ÖVP würde von 51 auf 36 oder 38 Mandate rutschen, die FPÖ von 34 auf 25, das BZÖvon 21 auf 15 und die Grünen von 20 auf 14.
Diese Zahlenspiele stellte Nationalratspräsidentin Barbara Prammer an die Spitze ihres Eröffnungsvortrags eines Symposiums über Wahlrechtsreform, für das sie der "Initiative Wahlrechtsreform" den Budgetsaal des Parlaments geöffnet hatte. Der Andrang war groß, die Akzeptanz der Ideen Poiers aber bei weitem nicht allgemein.

Schon Prammer selbst sieht zum Mehrheitswahlrecht mehr Fragen als Antworten. Die reichen von der prinzipiellen, ob die von ihr errechnete Sitzverteilung tatsächlich dem Wählerwillen entspricht über die in der Folge neu auszuverhandelnde Balance von Mehrheits- und Minderheitsrechten (die schon derzeit umstritten ist) und die Folgen für die Partei- und Klubfinanzierung. Und, für Prammer als SPÖ-Frauenvorsitzende bedeutsam: Verfestigt ein Mehrheitswahlrecht nicht die Dominanz von Männern in den Parlamenten? (In den meisten Ländern mit Mehrheitswahl-Systemen tun sich Frauen erheblich schwerer als Männer, überhaupt zu kandidieren und dann auch noch gewählt zu werden.)

Poier räumte dann ein: "Es gibt kein ideales Wahlsystem." Und: Es gibt auch kaum eines, das rein als Mehrheits- oder rein als Verhältniswahlrecht auftritt - meist sind es Mischformen, sogar bei uns (in Österreich ist das Verhältniswahlsystem durch Prozentklauseln und kleine Wahlkreise sowie durch Personalisierungselemente verzerrt). Schließlich müsse man bedenken, dass ein und dasselbe System unter verschiedenen soziokulturellen Voraussetzungen durchaus unterschiedliche Ergebnisse (und unterschiedliche Akzeptanz) bewirkt: Unter den Bedingungen eines Zwei- oder Dreiparteiensystems ist die Umstellung auf Mehrheitswahl leichter als in bunter zusammengesetzten Parlamenten.

Poiers Ansatz ist der eines "minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts" , das der stärksten Partei die Hälfte der Mandate plus einem (93) oder, um Koalitionen zu erzwingen, die Hälfte der Mandate minus einem (91) zugesteht.

Einem solchen Modell könnte der Sprecher der Initiative Mehrheitswahlrecht, Heinrich Neisser, viel abgewinnen. Neisser war fast ein Vierteljahrhundert Parlamentarier (zuletzt, 1994 bis 1999, als Zweiter Nationalratspräsident) und fast 20 Jahre Professor für Politikwissenschaft. Aus dem Wahlergebnis vom 28. September leitet er - gestützt auf Umfragedaten von Sophie Karmasin - ab, dass der Parteienstaat brüchig geworden sei.

Neisser wirft sämtlichen Parteien vor, erstarrt zu sein und ihrer für die demokratische Entwicklung wichtigsten Aufgabe nicht gerecht zu werden, nämlich geeignete Personen nach den Kriterien Qualität, Sensibilität und Spontaneität zu rekrutieren, die künftig in der Politik eine wesentliche Rolle spielen könnten.
Das geltende Vorzugsstimmensystem innerhalb des Verhältniswahlrechts apostrophierte der Politologe als eine "Behübschung" des Wahlrechts, die den Anforderungen eines personalisierten Wahlrechts nicht entspreche. Dagegen würde ein Mehrheitswahlrecht eine wesentlich stärkere Personalisierung der Wahlentscheidung bringen.

Und es würde dazu führen, dass nach Wahlen rasch eine stabile Regierung gebildet werden kann - entweder als (mit einem Mandat Überhang für die stärkste Partei schwach abgesicherte) Alleinregierung oder in der minderheitenfreundlichen Variante als Koalitionsregierung der stärksten Partei mit einer kleinen oder aller gegen die stärkste Partei. (Conrad Seidl/DER STANDARD Printausgabe, 10. Oktober 2008)