"Die flämischen Behörden erwarten, dass diese Leute auch bereit sind, die allgemein gebräuchliche Sprache zu lernen, wie das alle Behörden der Welt tun würden."

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Belgien taumelt von einer Staatskrise in die nächste. Nach nur vier Monaten im Amt ist die belgische Regierung im Sommer an der geplanten Staatsreform gescheitert. Derzeit herrscht Stillstand. Nichts geht mehr.

Es geht um Geld, Macht und Unabhängigkeit, die Bruchlinien verlaufen zwischen der Bundesregierung und den Regierungen Flanderns und der Wallonie. Marino Keulen, Minister für Innere Angelegenheit und Einbürgerung, sieht schwarz für die Reform, sollten die Frankophonen weiterhin die flämischen Forderungen ignorieren. Kann man sich nicht bald einigen, meint er im derStandard.at-Interview, könnte es auch zum Äußersten kommen und das Staatengefüge zerbrechen. 

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derStandard.at: "Die Flamen wollen Brüssel kolonisieren wie Jerusalem", sagte der Bürgermeister von Wezembeek-Oppemin einem Interview mit derStandard.at. Was möchten Sie ihm entgegnen und was steckt Ihrer Meinung nach hinter dieser Angst?

Keulen: Der Vergleich ist lächerlich, wenn nicht vollkommen grotesk. Es existierte nie ein gewaltsamer Konflikt zwischen Flamen und Wallonen. Weder in Brüssel noch an dessen Peripherie noch irgendwo anders in Belgien.

Immer mehr Menschen kommen aus aller Welt, um sich hier niederzulassen. Wir heißen sie willkommen, aber sagen auch dazu, dass sie Niederländisch lernen müssen, um einen guten Job zu bekommen und ein Teil der Gesellschaft zu werden. Das verursacht natürlich auch Spannungen mit einigen Frankophonen, die sich immer geweigert haben, Niederländisch zu sprechen, obwohl sie in Flandern leben. Die Flamen akzeptieren diese Unwilligkeit der Frankophonen innerhalb Flanderns nicht mehr. Umgekehrt waren Flamen immer bereit, Französisch zu lernen und Hunderttausende Flamen, die in der Vergangenheit oder auch heute in die Wallonie emigrierten, haben sich in kürzester Zeit sprachlich integriert.

derStandard.at: Immer mehr Frankophone ziehen aus Brüssel in die Randgemeinden, so verändert sich der Anteil zwischen Frankophonen und Niederländischsprachigen. Kann so was überhaupt reibungsfrei ablaufen?

Keulen: In der Tat gibt es in einigen Randgemeinden entlang der Sprachgrenze Spannungen. Und es ist korrekt, dass Französischsprachige von Brüssel nach Flandern ziehen. Das ist aber nicht neu. Die flämischen Behörden erwarten, dass diese Leute auch bereit sind, die allgemein gebräuchliche Sprache zu lernen, wie das alle Behörden der Welt tun würden. Das heißt nicht, dass sie plötzlich zu ausgewachsenen Flamen werden sollen, sie sollen ihre Identität als Frankophone behalten.

Sie sprechen Französisch und sie haben spezielle Rechte wie das Recht auf französische Schulen und den Gebrauch ihrer Sprache im Behördenverkehr. Das Regelwerk, das Belgien in zwei Sprachregionen teilt, war das Resultat eines historischen Kompromisses im belgischen Parlament.

derStandard.at: Im Dezember 2006 hat der französischsprachige TV-Sender RTBF Aufsehen erregt, als er einen fingierten Beitrag über die Teilung Belgiens ausstrahlte. Was hielten sie damals davon?

Keulen: Das war eine brillante Idee. Viele Flamen verstanden nicht, warum Flandern nach diesem Beitrag plötzlich in ein rassistisches und intolerantes Eck gestellt wurde. Das entspricht nicht der Realität, in Umfragen bekommen separatistische Parteien zwar 20 Prozent, aber nur 10 Prozent der Flamen wollen sich laut weiteren Umfragen abspalten. Für viele Flamen war der Bericht eine Beleidigung. Was wirklich interessant war: Viele der Französischsprachigen haben den Fake geglaubt.

derStandard.at: Sind alle Gesetze, die Verwaltung betreffend (z.B. der Rundbrief von Leo Peeters, der besagte, dass die Spracherleichterung für Frankophone in Flandern nicht auf Lebenszeit gilt. Was zur Folge hat, dass Frankophone ihre behördlichen Dokumente nicht automatisch auf Französisch zugeschickt bekommen, sondern dies jedes jahr neu beantragen müssen, Anm.) so vernünftig?

Keulen: Diese Regelung wurde mit einer Mehrheit der frankophonen und einer Mehrheit der flämischen Politiker beschlossen. Sie ist keineswegs illegal, wie von Bürgermeister François Van Hoobrouck behauptet. Sogar die belgischen Höchstgerichte haben befunden, dass Leo Peeters Rundbrief die Sprachregelungen richtig interpretiert. Regionalpolitiker wie Bürgermeister haben die Verantwortung, diese Gesetze auch umzusetzen. Wenn ein Großteil der parlamentarischen Vertreter der Flamen und der Frankophonen das Gefühl haben, dass die Gesetze nicht länger fair sind, werden sie auch geändert.

 

derStandard.at: Der Bürgermeister von Wezembeek-Oppem wirft den Flamen vor, nationalistischer zu sein als die Wallonen. Wie kommt er darauf?

Keulen: In Flandern existiert historisch eine politische Bewegung, die nach mehr Autonomie strebt. Zwei politische Parteien haben ihre Wurzeln in dieser Unabhängigkeitsbewegung. Das Bedürfnis nach Autonomie wurde in der Wallonie nie als derart dringlich empfunden wie in Flandern. Die französischsprachigen Menschen in Belgien haben keine Geschichte der Unterdrückung oder Diskriminierung ihrer Sprache durch die belgischen Behörden. Auf der anderen Seite sehen sie das Überleben Belgiens als Garantie dafür, dass auch die ärmeren Regionen der Wallonie und Brüssels wirtschaftlich überleben können.

derStandard.at: Besuchern Belgiens fällt auf, dass in der Wallonie die Städtenamen auf den Hinweisschildern auf französisch angebracht sind, sobald man nach Flandern kommt, sind die Städtenamen auf niederländisch angeschrieben. Nicht nur für die Besucher ist das verwirrend. Sind die Fronten derart verhärtet?

Keulen: In den meisten Ländern werden meiner Meinung nach die Namen der Städte und Gemeinden in der Sprache der jeweiligen Regionen angeführt. Niederländisch ist die offizielle Sprache Flanderns, Französisch die Walloniens. Brüssel führt beide als offizielle Sprachen. So ist es seit Jahrzehnten und das ist kein Beispiel für verhärtete Positionen.

derStandard.at: Belgien ist als Staatsgebilde aus einer Abgrenzung gegen den protestantischen Norden der damaligen Niederlande entstanden. Was haben die Belgier heute noch gemeinsam und was hält sie zusammen?

Keulen: Die belgische Revolution war keine Revolution des Volkes gegen die protestantischen Niederlande. Sie startete in Brüssel unter dem französischsprachigen Bürgertum, das seine ureigenen Gründe für eine Revolte gegen die niederländische Regierung hatte, unter der Niederländisch die offizielle Sprache war. Als Belgien geboren wurde, wurde Französisch die offizielle Sprache. Ich hoffe nicht, dass Belgien verschwindet, weil es ein Land ist, in dem sich die deutsche und die romanische Kultur treffen. Der historische Reichtum der Sprachen und Kulturen ist ein großer Wert. In einem Land, in dem der Surrealist Magritte ein nationaler Held ist, ist nichts so ernst zu nehmen, wie es scheint.

derStandard.at: Sehen Sie eine Chance in der nun geplanten Staatsreform und was muss diese beinhalten, um wirklich einen Fortschritt darzustellen?

Keulen: Belgien braucht eine gute Reform. Die Bundesregierung ist derzeit erstarrt und nicht fähig, wichtige Entscheidungen zu treffen. Die flämische Regionalregierung hat darauf hingewiesen, dass die Regionen mehr Kompetenzen im Bereich Arbeitsmarktpolitik oder auch mehr Budgetfreiheiten haben sollten.

derStandard.at: Denken Sie, dass sich Belgien doch irgendwann in zwei unterschiedliche Nationen aufspalten wird?

Keulen: Nein. Aber wenn das Land nicht die politischen Reformen bekommt, die es so dringend braucht, könnte das Ende näher rücken. Wenn die französischsprachige Minderheit weiterhin die Resolutionen aus dem Jahr 1999 blockiert (die umfangreiche Kompetenzen für die Regionen forderten, Anm.), die die Mehrheit der Flamen damals beschlossen hat, ist die Zukunft Belgiens in Gefahr. (Manuela Honsig-Erlenburg, derStandard.at, 13.10.2008)