Helmut Qualtinger 1986 beim Zeitunglesen im Café Alt Wien. Wer Glück hatte, konnte ihn dort zu später Stunde beim Rezitieren erleben. Ein Naturereignis.

Foto: Didi Sattmann

Wien - Wenn ein Österreicher seinen Unmut mit sich herumträgt, ist er "angefressen". Und nicht selten entspricht dieser Angefressenheit eine gewisse Statur, ein Wanst, in den das hineingefressen wurde, was anders nicht zu verarbeiten ist. Helmut Qualtinger, dessen 80. Geburtstag heute den Überlebenden und Nachgeborenen zu feiern bleibt (er starb am 29. September 1986 in Wien), war in vielerlei Hinsicht zugleich Inbegriff und Ausgeburt des angefressenen Österreichers. Aber er verwandelte den Unmut nicht einfach in Physiognomie, sondern er machte daraus ein Rollenspiel, das er mit den Österreichern spielte - im Kino, auf der Bühne, im Fernsehen.

Wer heute den Namen Qualtinger in die Suchleiste eines der Kulturkaufhäuser im Internet eingibt, wird Medien sonder Zahl finden: Tonträger, Tonbildträger und auch eine Menge Bücher. In den Fünfzigerjahren, als Österreich mit seinem Wiener Wasserkopf in gegenmoderner Rechtschaffenheit auf die junge Zweite Republik und den damit einhergehenden historischen Freispruch stolz war, gehörte Helmut Qualtinger zu der anderen Wiener Gruppe.

Die eine Wiener Gruppe, die auch so genannt wurde, das waren die Literaten und Künstler: H.C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm. Die andere Wiener Gruppe, das waren die Kabarettisten, die als Ensemble bewusst "namenlos" blieben und das Avantgardistische in der Kleinkunst versteckten: Gerhard Bronner, Georg Kreisler und eben Helmut Qualtinger, der - im Autorendialog mit Carl Merz - mit dem Travnicek eine erste genuine Verkörperung des angefressenen Österreichers schuf. Eine Bouillabaisse war für Travnicek "ein stinkertes G'schlader" .

Vom Travnicek zum Herrn Karl war es dann nur ein Schritt. Der am 8. Oktober 1928 geborene "Quasi" ist mit dieser Figur nahezu verschmolzen. Die lauernde Stimme, das tastende Werben um Verständnis für das eigene Ressentiment, das Herumgrundeln im Keller - all das lädt zur negativen Identifikation ein. Anders als Der Herr Karl ist leicht sein. Dabei ist dieses wieder mit Carl Merz verfasste Stück, das (Fernseh-)geschichte schrieb, auch ein ganz außergewöhnlicher Text: Nationalgeschichte von unten (und von hinten, von wo einem das Hackl ins Kreuz geschlagen wird), Nationalgeschichte von einem Mieselsüchtigen, der sich nur in der Menge sicher fühlt.

Qualtingers Genie bestand darin, dass er den Herrn Karl näher an das Böse (wie Hannah Arendt etwa es verstand) heranführte, als es einem Herrn Karl eigentlich zustand. Der Kleinbürger ist ja zu großen Verirrungen gar nicht in der Lage, deswegen kann er sich in der Sicherheit einer Geschichte wiegen, die ohne ihn (und über seinen Kopf hinweg) gemacht wird.

Legendäre Lesungen

Mit diesem Irrtum räumte Qualtinger auf, auch durch seine legendären Lesungen aus Hitlers Mein Kampf und Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus. In seinen "schwarzen" Liedern besang Qualtinger eine Republik, in der halbstarke Verhaltensweisen (Der g'schupfte Ferdl) gar nicht so dramatisch sein konnten, dass es ein Vater mit guten Verbindungen (Der Papa wird's schon richten) nicht entschärfen konnte. Dieses informelle Moment zwischen allen Gewalten der Proporzrepublik besang er zum Beispiel auch in "Der Arrivierziger", in dem, wenn man so will, die Nebenregierung einer Kronen Zeitung schon begriffen ist.

Mit seiner Erscheinung war er natürlich auch ein Charakterdarsteller für das Fernsehen und den Kinofilm. In Wolfgang Liebeneiners 1. April 2000 ist er namentlich nicht angeführt, er taucht dort aber als der Russe im Jeep der Besatzungsmächte auf. Das passt bestens zu einem Mann, der später als "Eskimodichter Kobuk" die heimischen Medien an den Westbahnhof bestellte. Ein dadaistischer Akt, der in der Folklore in alle möglichen Richtungen und bis zum Außenminister von Aserbaidschan abgewandelt wurde.

In dem Krimi Kurzer Prozess ist er vielleicht so archetypisch wie nirgends sonst: Der Inspektor Pokorny ist angefressen darüber, was andere ausgefressen haben - ein Weltverhältnis, wie es zu Österreich passt. (Bert Rebhandl, DER STANDARD/Printausgabe, 08.10.2008)